Gegen die Quarantäne der Leidenschaften, die soziale Epidemie

Gerade jetzt, wo das Denken den Expert*innen und Wissenschaftler*innen überlassen wird, sind wir auf kritisches und poetisches Denken angewiesen – und subversive Vorschläge! Hier ein Text aus den abgeriegelten Gebieten Italiens, gegen die Quarantäne der Leidenschaften!

In diesen Tagen breitet sich ein neuer Albtraum aus: die Ansteckung durch das so genannte Coronavirus. Zehn Dörfer in der Gegend von Lodi, die als Ausbruchsort der Infektion gelten, und ein Dorf in der Region Venetien, in dem der erste Todesfall durch das Virus aufgetreten ist, wurden unter Quarantäne gestellt. Dies bedeutet, dass die Menschen keine Möglichkeit haben, sich zu bewegen und ihre Häuser zu verlassen. In der gesamten Lombardei zwingt die Macht die Menschen, ihre soziale Mobilität einzuschränken. Von der Schließung der Treffpunkte bis zur Ausgangssperre ist der Schritt kurz. Als Gefangene ihrer selbst und für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar, hat die Fürsorgliche Regierung sogar per Blitzdekret die Schließung der Straßen angeordnet und die Garnison von Polizei und Armee verstärkt, wobei sie andeutete, dass, wenn jemand die staatlichen Anordnungen nicht befolgte, auch eine Verhaftung drohen könnte. Eine soziale Epidemie, auf die die Macht nur mit Repression und Überwachung reagieren kann. Die Jagd nach dem all heilenden Mittel der Salbung hat begonnen.

Ein neues Gespenst taucht um uns herum auf, und seine Stärke ist seine vermeintliche medizinische Wahrhaftigkeit und die Macht, alle anderen für das menschliche Auge unsichtbaren Gespenster blitzschnell auszulöschen. Bizarrerweise wird die soziale Epidemie zu einem dringen Thema, wenn wir über den schnellen Tod sprechen. Wenn der Tod sich im Leben niederlässt, kehrt alles in die Welt der Katastrophe zurück. Ist es nicht schon ein Notfall, wenn die Luft an den Orten, an denen wir leben, durch die Industrialisierung der Maschinenwelt vergiftet ist?

Kein Notfall, wenn Mikroplastic die Luft, die wir atmen, und die Lebensmittel, die wir essen, verseuchen? Kein Notfall, selbst wenn wir noch immer von radioaktivem Boden essen, der durch die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 verseucht wurde? Und Fukushima, wo Nukleartechniker*innen in diesem Gebiet verkünden, dass die einzige Möglichkeit, die laufende Radioaktivität zu stoppen, darin bestehe, den Abfall in den Ozean zu kippen?

Bei dieser neuen Epidemie scheinen die Gewissheiten der Expert*innen innerhalb von 24 Stunden zusammengebrochen zu sein. Und wenn die Gewissheiten zusammenbrechen, steht das Chaos vor der Tür.

Aphorismen über die Katastrophe

Dies ist die erste globalisierte Epidemie. Nicht global, sondern globalisiert. Es gab schon immer Epidemien, die Kontinente überquerten, sich wie ein Lauffeuer ausbreiteten, Tod und Schmerz verursachten.

Dies ist jedoch die erste Virusepidemie, die eine Welt durchquert, in der sich die Individuen immer ähnlicher werden, die Lebensbedingungen und die Konsumgewohnheiten immer standardisierter werden.

Was ist die ökologische Funktion dieser Krankheit? In dieser, unserer, Ära der Expert*innen, in der der Schwerpunkt auf der vermeintlichen medizinischen Wissenschaft liegt, wird zu diesem Thema wenig getan. Wo COP21 gescheitert ist, könnte 2019n-CoV Erfolg haben. Die Krankheit und der daraus resultierende Tod sind nur in einer Welt möglich, die sich zu einer Mythologie der Verewigung gemacht hat. Man kann nicht glauben, dass an Orten, an denen Millionen von Menschen leben, die Antibiotika und Junk Food missbrauchen, diese Phänomene nicht auftreten. Die ökologische Frage findet auch eine Lösung in der quantitativen Abnahme der Menschen, sowie in der notwendigen qualitativen Veränderung ihres Lebens.

Wie unterscheiden wir uns schließlich von Pinne nobilis? Diese liebenswerten Verwandten der Muscheln lebten glücklich in den riesigen Unterwasserprärien von Posidonia ocenanica. Der Mensch zerstörte die Prärie, in der sie lebten, fischte sie als Souvenir und eröffnete neue Wege der Kommunikation durch die Meere (Suezkanal). Jetzt vernichtet ein Bakterium die wenigen verbliebenen Individuen.

Oder sind wir wie irische Kartoffeln, die in intensiver Monokultur angebaut werden? Hektarweise Kartoffeln, Klone anderer Kartoffeln, mit den gleichen Eigenschaften, den gleichen Schwachstellen. Man braucht nur einen Parasiten, um sie auszulöschen.

Der Genetiker Lewontin fragt sich in seinem Buch Biologie als Ideologie: War es ein Bakterium, das die Explosion der Tuberkulose im 19. Jahrhundert verursachte, oder waren es die Lebensbedingungen in den Fabriken?

Sie sagen uns, dass wir unser Zuhause nicht verlassen sollen, dass wir die Menschen, die wir lieben, nicht umarmen sollen, dass wir Grenzen oder Straßen nicht überschreiten dürfen. Sie sagen uns, dass wir unser Leben riskieren. Aber welches Leben? Vielleicht das Nicht-Leben, das wir zuvor ertragen haben, in dem die Quarantäne die Kabine unseres Minivans auf der Umgehungsstraße war? Oder war es die Isolation der Wohnungen, in den Zellen eines riesigen Betonbienenstocks? Wenn es nur möglich ist, Telearbeit und Socialising über das Internet abzuwickeln, werden die Antennen und das, was sie speist, zu einer notwendigen Bedingung für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung angesichts der Unordnung der Träume.

Eduardo De Fillipo schrieb in „Millionaire Naples“, dass man nach dem Krieg überleben müsse, um sich vom Krieg zu erholen. Adda passà a nuttata“, seufzte sie und bezog sich dabei auf ihre kranke Tochter. Auch wir leben inmitten einer Krankheit, eines Krebsgeschwürs, das die Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umgebung beeinträchtigt. Staat, Hauptstadt, technisches System. Fieber ist die Reaktion des Körpers auf eine externe Invasion. Kann es eine Möglichkeit zur Befreiung vom Fieber geben?

Wenn du ein Schaf bist und den Wolf blöken hörst, solltest du dir Sorgen machen. Die Macht kümmert sich nicht um unser Glück, sie kümmert sich darum, dass wir weiter produzieren, dass wir weiterhin in den Mustern der Ausbeutung und des Überlebens bleiben. Wenn der Staat um Kooperation bittet, ist Desertieren eine wunderbare Option.

Viele Zivilisationen sind durch Krankheiten zerstört worden. Je komplexer eine Zivilisation ist, die Disziplin erfordert, um zu überleben, desto zerbrechlicher ist sie. Während die Armee und die Polizei die Kranken bewachen, liegen die Nervenbahnen offen da. Diese Gesellschaft zu blockieren, ihre Nachschublinien zu unterbrechen, ist eine sehr verständliche und wünschenswerte Geste: Angesichts des Abgrunds der ökologischen Katastrophe und der täglichen Vernichtung bleibt die Möglichkeit einen Weg zu finden unseren Begehren schließlich Ausdruck zu verleihen. Und unsere gesellschaftliche Rolle zu blockieren, gegen all das nichts tun zu können.

Was bleibt, wenn der Staat versagt? Was bleibt, wenn das Vertrauen in den Staat verloren geht? Was bleibt, wenn der Staat seine Untertanen erschießen muss, die nicht in Quarantänezonen eingesperrt werden wollen? Was passiert, wenn sich der Staat als unfähig erweist, zu regieren und zu schützen? Die Möglichkeit. Caracremada lief allein in die Pyrenäen und jagte der Möglichkeit eines Sturzes der Franco-Diktatur hinterher. Eines Tages könnten wir uns mit anderen Individuen zusammen eingesperrt finden, um der Krankheit auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite gegenüberzutreten.

Ein Leben aus Leidenschaft

Die Sprache, die sich nicht mehr ausdrücken kann, ist immer noch verständlich. Sie unterbricht das Vergessen. Angesichts der entmutigendsten aller Wüsten, dem Wald des Wissens und der Perspektive, ist jede Konstruktion ein Scheinbild aus Trümmern, und ihre Form ist nichts Neues. Aus diesem Grund müssen die Formen zerstört werden.

Launtréamont sagte, dass Poesie von allen gemacht werden kann, nicht von einem. Die Wissenschaft hingegen, kann nur das Bollwerk von Expert*innen sein. Deshalb ist die Poesie die absolute Ablehnung der Wissenschaft. Und dies ist ein grundlegender Schritt, um das Gold der Zeit gegen die Kommodifizierung des Überlebens in der Quarantäne zu suchen und dem Denken seine Spontaneität zurückzugeben. Jenseits des Schreckens ist alles vorstellbar.

Um Breton zu zitieren:

Choose life with its conspiratorial sheets

Its scars from escapes

Choose life choose that rose window on my tomb

The life of being here nothing but being here

Where one voice says Are you there where another answers Are you there

I’m hardly here at all alas

And even when we might be making fun of what we kill

Choose life

aus den Gebieten des Virus und darüber hinaus, einige Überlebende der sich brechenden Wellen

Übersetzt aus dem Englischen unter Verwendung des italienischen Originals. Zuerst erschienen unter dem Titel Contro la quarantena della passioni, l’epidemia sociale auf roundrobin.info.

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