Gegen die Verwirrung in der (radikalen) Linken angesichts von Corona

Bis weit hinein in alternative und linke, linksradikale,kommunistische und anarchistischeKreise, herrscht Verwirrung. Oft wird dem Staat geglaubt, dass es ihm um den Schutz der Gesundheit der gefährdetsten Menschen geht. Das aber ist reine Propaganda.
Andererseits sind Rechte Querfront-Strateg*innen (aus AFD und NPD sowie Verschwörungstheoretiker*innen) sehr erfolgreich darin, ihre Kritik an der staatlichen Corona-Politik – oft unerkannt – als die Opposition dazu zu verbreiten.

Selbst eine normale Grippewelle ist nicht ungefährlich. Und Corona – das ist spätestens klar, seit sich das Virus bei Tagestemperaturen von 35°C in Indien verbreitet hat – ist kein normales Grippevirus.

In Bremen gibt es seit Wochen jeden Samstag Proteste gegen die Corona-Politik. Diese wurden von einer Aktivistin, die in der Linkspartei gelandet ist, und einem Menschen, der sich als Kommunist versteht undsich gerne positiv auf den Anarchisten Erich Mühsam bezieht, angestoßen. Diese Proteste sind sehr bürgerlich. Sie fordern ‚unsere demokratischen Rechte vom Staat zurück‘. Diese Forderung schließt selbstverständlich die Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität mit ein.
Eine grundsätzliche Kritik an Staat und warenproduzierendem Patriarchat fehlt. Das geschieht in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Querfront-Strateg*innen die öffentlich wahrnehmbare Kritik an der Corona-Politik dominieren. Es ist also kein Wunder, dass das die Kundgebung auch Recht(sradikal)e anzieht. Auf einer der ersten Kundgebungen, wurde u.a. von einer kleinen Gruppe das Deutschland-Lied angestimmt. Nur eine versuchte zu stören. Die Organisator*innen weisen nach diesen Erfahrungen, darauf hin, dass rechte Positionen keinen Platz haben sollen. Aber: Es fehlt das Hintergrundwissen, um die recht(sradikal)en Hintergründe von Corona-Parolen zu erkennen. Ja, es ist überdeutlich, dass es sogar eine Abwehr gibt, sich mit der Kritik an der Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung auseinanderzusetzen.
Das gilt erschreckenderweise selbst für die undogmatisch Linken bis Libertären, die sich an der Kundgebung beteiligt haben. Ich bin teils langjährig mit einigen davonbefreundet. Eine davon habe ich z.B. durch die linksradikale Dissent-Vernetzung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm kennengelernt, einen anderen durch das A-Café. Diese haben das Bedürfnis sich sichtbar gegen die medizinisch indizierte autoritäre Formierung zu stellen. Dem Staat und seiner repressiven Politik der Angst zu misstrauen ist erstmal ein guter Grund auf die Straße zu gehen.
Diesen Grund kann eine* auch den Bürgerlichen auf den Kundgebungen nicht prinzipiell absprechen. Ich habe das Bedürfnis auch, aber ich bin überzeugt, dass der Rahmen dafür nicht geeignet ist. Am 9. Mai wurde auf der Kundgebunggegen die Corona Politik ein Redebeitrag zum Tag der Befreiung vom Faschismus gehalten. Einige führten entsprechende Pappschilder mit sich.

Recherche Nord hatte zuvor die Proteste in Bremen eindeutig als rechtsradikal geoutet. U.a. auf endofroad wurde gegen die Kundgebung mobilisiert. Kurz nach dem Redebeitrag zum 8. Mai erschien die Antifa und outete die Demonstrationsteilnehmer*innen lautstark kollektiv als Nazis. Die undogmatisch Linken bis Libertären die dort waren, mussten erstmals erleben, als Nazis beschimpft zu werden. 6 der 7 mir namentlich bekannten Teilnehmer*innen dieser fragwürdigen Samstags-Demos habe ich auf der Demo gegen die faschistischen Morde in Hanau gesehen. Die Antifas outeten sich in einem Redebeitrag als unreflektierte Anhänger*innen der staatlichen Corona-Politik. Die Basisgruppe Antifa (BA) schreibt, dass die „‚Hygiene-Demos‘ … einen klassenübergreifenden Zusammenschluss von Liberalen bis hin zu Neonazis [bilden]. … [Es einigt sie] die antisemitische Vorstellung, dass eine bestimmte Gruppe, die kosmopolitisch und global vernetzt ist (WHO, Wissenschaft usw.), die weltweite Pandemie steuert.“ Die BA malt in Übereinstimmung mit Merkel dass Panikszenario einer 2., weit schlimmeren Covid 19-Welle. Der Bremer Ermittlungsausschuss diffamiert die Teilnehmer*innen an den Bremer Corona-Samstags-Protest per mail vom 14.5. pauschal als Querfront-Aktivist*innen. Manchmal macht schwarz-weiß-Malerei ja Sinn.
Aber ich denke nicht,dass den Bremer Samstags-Protesten gerecht wird.
Hallo ihrAntifas, das ist ein einfaches, binäres^schwarz-weiss, gut-schlecht Bild,zwangsläufig ebenso (wenn auch anders) verkürzt und falsch, wie das was die Leute auf dem Bremer Marktplatz gegen die Corona-Politik veranstalten.

Nochmals: Das Corona-Virus ist nicht ungefährlich. Aber es ist auch kein Grund für Panik und Panikmache. Wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden, kommt es zur ‚natürlichen Selektion‘. Alte, Kranke, Lager-, Knast- und Psychiatrieinsass*innen, Arme in den Slums, also die aus kapitalistischer Logik ‚Unnützen‘, die nicht ‚Leistungsfähigen‘ werden damit selektiert. Einige Staaten schützen einige der Gefährdeten-Gruppen mit nicht zielgerichteten Maßnahmen. Alle Staatennutzen Covid-19, um auszuprobieren, wie weit sie die Formierung zum autoritären Notstandsstaat ausweiten können. Wer sagt das Corona-Virus sei völlig ungefährlich, reproduziert die faschistoide, Staat und warenproduzierendem Patriarchat eingeschriebenen Logik.

Die Forderung, die Lager sofort zu schließen ist absolut richtig. Das Lagersystem ist auch ohne Corona menschenverachtend. Ob in der Lindenstraße in Bremen, ob auf den griechischen Inseln, ob in Syrien oder wo auch immer. Die Menschen, die aufs engste zusammengepfercht, oft gesundheitlich (physisch und / oder psychisch) angeschlagen, sind extrem gefährdet, sich mit dem Corona-Virus anzustecken, sobald dieser erst mal das Lager erreicht. In Bremen ist genau das in der ZAST in der Lindenstraße geschehen. Die Argumentation der Antiras baut auf der staatlichen Corona-Politik auf, um gute, stichhaltige Argumente gegen die zuständige Senatorin zu haben. Alle Antiras, mit denen ich seit Corona gesprochen habe, sind denn auch von der extremen Gefährlichkeit des Virus überzeugt und unterstützen fast durchgängig die herrschende Corona-Politik. Aber selbst dieses Berufen auf die staatliche Corona-Herrschaft hat keine Erfolge – eben weil es der Politik (und auch der von Grünen und Linkspartei) nicht um die Gesundheit der Menschen geht. Somit fördern Antiras mit dieser Argumentation die Verwirrung. Das verhindert, eine eigene herrschaftskritische Position zu Corona zu finden und zu formulieren.

Oft sterben Menschen schon allein aufgrund der Regierungspolitik gegen Corona – ohne sich überhaupt mit dem Virus zu infizieren. In den Ländern, in denen es kaum funktionierende Sozialsysteme gibt, bekommen Arme in den Städten keine Jobs mehr. Dazu werden die Slums u.a. in Indien militärisch abgeriegelt. Ohne die spärliche karitative Hilfe würden die Armen in den Slums (ob in Indien, Südafrika, ob in Lateinamerika oder in den USA) schlicht und einfach verhungern. Menschen die sowieso schon geschwächt sind, sterben dann auch massenweise an Corona, wenn die Corona-Pandemie ihren Stadtteil erreicht. Aber: Da würde auch jeder andere Virus reichen.

Wer von den Linken, die sich für die herrschende Corona-Politik aussprechen denkt schon an die, die psychisch nicht so stabil sind. Für diese stellen Kontaktsperren, Versammlungsverbote und Ausnahmezustand krasse Angriffe gegen ihre psychische Gesundheit dar. Wer von ihnen denkt an die Kinder, die angesichts der Corona-Politik 24 Stunden lang überforderten und gereizten, latent gewalttätigen Eltern im Wege stehen.
Gerade (15.5.) hab ich im Radio gehört, dass die Zahl der Kleinkinder mit Schütteltrauma massiv angestiegen ist. Eine emanzipatorische Position zu Corona muss das berücksichtigen, kann also selbst einfache, grundsätzlich sinnvolle Abstandsregeln nicht uneingeschränkt einfordern.

Und dann gibt es ja noch die verschiedenen stalinistischen und leninistischen Fraktionen. Der ‚Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD‘ hat zum 1. Mai immerhin die durchaus stimmige Parole „Der Kapitalismus, die Seuche der Menschheit“ plakatiert. Er will im Rückgriff auf die mörderischen Ideen Stalins und mit völlig unkritischer Technologiegläubigkeit die Seuche Kapitalismus mit der Seuche Staat bekämpfen. Anarchist*innen haben schon bevor Lenin das in Praxis umsetzte, vorhergesagt welche Folgen es hat, die Probleme mit Hilfe des Staates zu lösen. Und: Es gibt eine enge Verbindung zwischen dem Ausbruch von Epidemien und dem Druck auf z.B. durch Landgrabbing vertriebene Kleinbäuer*innen im Globalen Süden, in Wälder auszuweichen.
Die Wald-Ökosysteme sind insbesondere durch Abholzung und Klimakriege stark belastet. Das macht das Überspringen von Krankheitserregern von Tier auf Mensch dort wahrscheinlich. Mit einer Politik á la Arbeiterbund würden also die Bedingungen zur Entstehung von Epidemien und globalen Pandemien gestärkt.

Die Frage ob Menschen mit oder an Covid 19 sterben wird zwar auch immer wieder von Verschwörungstheorie-Fans angebracht. Aber sie ist genauso berechtigt wie die Frage, ob weltweit mehr Menschen an oder mit Corona oder an den Folgen der Corona Politik sterben. Die demokratischen Staaten betreiben den Kampf gegen Corona mit einer massiven Politik der Angst (Der österreichische Kanzler Kurz: „In jeder Familie wird es Tote geben“). Mit einem „Wimpernschlag“ (Gai Dáo) werden demokratische Rechte und Freiheiten außer Kraft gesetzt. Der Unterschied zwischen Demokratie und Faschismus war noch nie ein absoluter. (dazu: S. 29 – 46 in: Befreiung vom Geld und Eigentum, Bd.2 >> befreiungvomgeldundeigentum.blackblogs.org) Die Corona-Pandemie wird jedenfalls weltweit genutzt, um eine medizinisch indizierte autoritäre Formierung durchzusetzen.

1968 wäre eine solche staatliche Corona-Politik nicht durchsetzbar gewesen. Das zeigt deutlich auf, wie weit es den Staaten und dem warenproduzierenden Patriarchat gelungen ist, dass die Menschen sich aktiv unterwerfen.

Die Hong-Kong-Grippe brachte 1968/70 weltweit den Menschen hohes Fieber und viele spuckten Blut. Weltweit starben 750.000 bis 2 Mill. Menschen, in der BRD und der DDR zusammen im Winter 1969 / 70 50.000. In Hamburg war jede zweite Person infiziert. Das Gesundheitssystem kollabierte dort fast.

Das war auf dem Höhepunkt des nach -68er Widerstandes. Hat irgendwer schon mal was davon gehört, dass deshalb die Kritik an Staat und Kapitalismus mit Abstandsregeln und Mundschutz geübt wurde, dass Veranstaltungen und Widerstand abgesagt wurden? Ein befreundeter, mit über 80 immer noch aktiver Alt-Autonomer, der damals in Hamburg und Berlin aktiv war, sagte mir, dass er sich nicht erinnern kann, dass das überhaupt ein Thema war.

Wie oben schon gesagt – eine solche praktische Ignoranz gegenüber realen Problemen ist nicht unproblematisch. Die aktive Unterwerfung unter die staatliche medizinisch indizierte autoritäre Formierung ist aber ein noch weit größeres Problem.

Der Schweizer Autor P.M. kommt aus dem Züricher Häuserkampf-Bewegung und entwarf u.a. die Bolo-Bolo Utopie. Er meldete sich Ende 2019 mit einer kleinen Dystopie zur drohenden Öko-Diktatur zu Wort. Die Leute unterwerfen sich in seiner Dystopie – zum Teil mit Murren, aber im Wesentlichen ohne sich dagegen zu wehren – den drakonischen Maßnahmen der staatlichen Öko-Diktatur. Eine Grippewelle, genannt Corona-Pandemie, bringt unsere Leben gerade zum Stillstand. Und die Menschen unterwerfen sich, wie es P.M. beschrieb. Es gibt fast nur noch ein Thema – Corona.
Die existentiellen globalen sozialen Fragen, die ökologischen Fragen so um Klima und Artensterben, sind wesentlichvom Tisch. Die grundsätzliche Kritik an Staat und Kapitalismus ist noch weniger wahrnehmbar als ohnehin schon. Veranstaltungen, Demos, Direkte Aktion – in der BRD alles abgesagt oder verschoben. Damit werden unhinterfragt reaktionäre Ansätze gestärkt. Ein Beispiel: Das Aktions-Camp ‚gemeinsam gegen die Tierindustrie‘ wurde abgesagt. Die Politik wendet sich aktuell mit ihren autoritären Vorstellungen gegen die Arbeits-Migrant*innen in den Tierfabriken und wird darin durch Bürger-Initiativen-artige Proteste unterstützt. Der Staat leitet gerade das wirtschaftliche ‚weiter so‘ ein.
Angesichts der fetten aufgelegten Hilfsprogramme für die darunter leidende Wirtschaft haben die Staaten danach mal wieder leere Kassen als Ausrede für fehlendes Handeln.

Mit Corona war plötzlich ‚unser‘ Resonanzboden weg. ‚Wir‘ können nicht wirklich darauf warten wollen, bis der Staat uns den Widerstand wieder erlaubt.

Wir brauchen Treffpunkte, um uns auszutauschen, um miteinander zu reden, um der Verwirrung etwas entgegenzusetzen. Welche Bedeutung hat der Virus? Wie kann eine anarchistische Handlungs-Perspektive gegen den Staat
und das warenproduzierende Patriarchat angesichts von Corona aussehen?
Die Zeitschrift der anarchistischen Föderation, die Gai Dào will ein elektronisches Sonderheft zu Fragen und Antworten angesichts von Corona rausgeben. Das bringt schon mal was. Auf jeden Fall müssen dabei die sozialen und die ökologischen Kämpfe zusammengedacht werden, statt sie gegeneinander auszuspielen. Fragend sollten wir voranschreiten. Die solidarische Praxis der linken Subkultur und die Kritik an der herrschenden Politik müssten eher radikalisiert als ausgesetzt werden.
Wenn die radikale Linke weiterhin nichts anzubieten hat, gewinnen zweifelhafte bis rechtsradikal beeinflusste Bewegungen an Einfluss.

Das Ziel bleibt ein gutes Leben für alle – weltweit, jenseits von Geld und Eigentum. Und was das gute Leben für die Menschen / Gruppen von Menschen bedeutet, kann nicht zentral vorgeschrieben werden.
Kurzfristiges Ziel muss sein, auch in Zeiten von Corona handlungsfähig zu werden.

So, ich hab jetzt genügend Leuten auf die Füße getreten, kritisch-solidarische Grüße von einem älteren Anarcho aus Bremen

P.S.: Während in Bremen vereinzelte Leute unerträgliche Sprüche loslassen und das nicht energisch genug aus der Kundgebung beantwortet wird, scheint die Situation z.B. in Hamburg massiv anders zu sein. Dort wurde eine Reihe bekannter Nazi-Größen gesichtet und aus der Masse unterstützt, in dem viele ‚Wir sind das Volk‘ brüllten und das Deutschlandlied sangen.

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