Rigaer 94: Auf welcher Seite stehst du

Es ist längst Zeit den Konflikt zu suchen und ihn zu verschärfen. Es ist Zeit sich gegen die Besitzenden und ihre Idee von Eigentum zu stellen und auf unserer Seite, der der Mieter*innen, der Besitzlosen, der Wohnungslosen zu kämpfen.

Es ist auch Zeit sich gegen die Besetzung unserer Viertel zu wehren, gegen den Staat und eine Gesellschaft, die mitträgt, dass Menschen aufgrund rassistischer Zuschreibungen systematisch unterdrückt und ausgebeutet werden; die alle verjagen und ausschließen, die nicht in die Stadt der Reichen passen oder passen wollen. Es gibt keinen Grund das Bestehende zu verteidigen und sich auf die Seite der Profiteure des kapitalistischen Systems zu stellen. Aber es gibt genug Gründe sich gemeinsam gegen Staat und Kapital, gegen Autoritäten und ihre Verteidiger*innen zu organisieren und zu rebellieren, um für die Prinzipien der Selbstorganisierung, gegenseitigen Hilfe, der Solidarität und ein Leben in Freiheit und Würde zu kämpfen. In diesen Kontext stellen wir die Verteidigung der Rigaer94.

Die Rigaer 94

Für uns ist dieses Haus der Ort, an dem wir uns im Kollektiv zu leben und auch zu kämpfen entschieden haben. Es ist Organisationsort der verschiedenen Kämpfe, in die wir uns über die Jahre – auch international – eingebracht haben. Als Teil des immernoch vorhandenen Widerstandes in dieser Stadt. Gegen den Polizeistaat und die mit ihm verbundene Transformation von Teilen der Stadt in sogenannte “Gefahrengebiete”, in denen Bullen Menschen belästigen, kontrollieren und jagen. Gegen die Gentrifizierung, steigende Mieten, Immobilienprojekte, die Zerstörung öffentlichen Raumes und Verdrängung. Gegen soziale Vereinsamung, Egoismus und die Erzählung von “jeder für sich”.

Ganz im Gegenteil stehen wir für Selbstorganisierung, gegenseitige Hilfe und Solidarität ein. Dafür unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen und uns gegen die ständige Bevormundung von Oben zu verteidigen. Für das Experiment selbstverwalteter Orte, Orte des Kampfes und des Lebens in einer Gemeinschaft, ohne autoritäre und patriarchale Unterdrückungsmechanismen.Die Kadterschmiede und der Jugendclub Keimzelle sind Treffpunkte, die es uns ermöglichen im Austausch zu bleiben, auch wenn das soziale Leben eingefroren werden soll.
Der Angriff auf die Rigaer 94

Für den 17. und 18. Juni stellen sich, neben dem angeblichen Hausverwalter Luschnat, den „Anwälten“ Bernau und von Aretin, sowie einem von ihnen berufenen Brandschutzgutachter, die Bullen auf, um einen weiteren Angriff auf unser Haus zu unternehmen. Als rechtliche Grundlage werden sie dafür eine Duldungsanordnung des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg benutzen, die alle Bewohner*innen dazu verpflichten soll, der “Begehung zur Begutachtung des Brandschutzes” in allen Wohnungen und Räumen zuzustimmen. Dass es sich aber um eine „einfache Brandschutzüberprüfung“ handeln soll, ist unwahrscheinlich, da allen Beteiligten klar ist, dass wir dieses Haus in den letzten Monaten mit der Hilfe von Freund*innen zum wahrscheinlich brandsichersten Haus der Stadt gemacht haben. Die 500.000€ für die im März angeforderten Hundertschaften aus anderen Bundesländern sprechen dafür, dass der Einsatz über einen längeren Zeitraum geplant war und sein wird. Möglich ist also, dass die Bullen in den Tagen vor dem 17. und 18. Juni eine “Rote Zone” errichten werden, um unser Haus am 17. Juni stürmen, die Nachbarhäuser besetzen und die von uns eingebauten Brandschutztüren, Wände und weitere elementare Einrichtungen des Hauses zerstören zu können. Vielleicht wollen Bernau, Luschnat und Co. danach die “Unbewohnbarkeit” des Hauses feststellen, besetzte und seit Jahren bis zu Jahrzehnten bewohnte Wohnungen räumen und geschützt durch Bullen und Sicherheitsfirma, mit Bauarbeitertrupps weiter zerstören, was wir uns aufgebaut haben. Das wäre ein Szenario ähnlich dem Räumungsversuch im Sommer 2016.

Die Parteien des rot-rot-grünen Senats, allen voran Innensenator Geisel für die SPD, fühlen sich durch Wahlkampf und juristische Vorgeplänkel nun ermutigt genug, das zu wagen, an dem sich schon vorher der Eine oder Andere seine politische Karriere verbaut hat: Eine Brandschutzbegehung zum Zwecke der Aufklärung, eine schleichende Räumung durch die Besetzung eines ganzen Viertels und unseres Hauses oder das Setzen auf den großen Schock einer plötzlichen Räumung. Wir können nicht vorhersagen, was genau davon passieren wird und spekulieren deswegen nicht weiter. Denn alle Möglichkeiten führen zu einem Punkt: Die Rigaer94 wird angegriffen, mit dem Ziel uns zu zerstören. Der Tag der Eskalation ist für uns TagX. Darauf werden wir entsprechend reagieren. Bis dahin werden wir aber nicht Abwarten. Nicht hoffen auf den Erfolg der juristischen Nebenschauplätze. Nicht tatenlos zusehen, wenn sie unsere Selbstorganisation einmal mehr bedrohen.

Zusammen kämpfen

Das Jahr 2020 war in vielerlei Hinsicht ein besonderes, aber insgesamt auch kein besseres oder schlechteres als die Jahre davor. Der kapitalistische Normalzustand wurde im Rahmen der Corona-Pandemie, mit weiteren autoritären Maßnahmen gestützt und wir alle hatten Schwierigkeiten uns in dieser neuen Situation, mit Kontakt- und Ausgangssperren, aber auch einer verständlichen Verunsicherung im Umgang mit den gesundheitlichen Fragen der Pandemie, zurechtzufinden. Wenn wir jetzt eure Solidarität einfordern, um die Rigaer 94, die viel mehr als einfach nur „unser Haus“ ist zu verteidigen, dann tun wir das nicht, weil wir wollen, dass ihr für uns kämpft. Wir wollen mit euch zusammen kämpfen. Wir wollen, mit euch unsere Kämpfe an den verschiedenen Orten dieser Stadt und darüber hinaus intensivieren! Wir wollen Teil der verschiedenen Kämpfe sein und dass sie auch durch dieses Haus ihren Ausdruck finden können.

Wir denken, dass wir konkrete Orte brauchen, an denen wir uns kennenlernen und organisieren können. Nach den Räumungen von Syndikat, Liebig 34, der Rummelsburger Bucht, der Meuterei, der Verdrängung von Potse&Drugstore und der akuten Bedrohung der Köpi müssen wir deshalb verbleibende kämpfende Orte in dieser Stadt mit all unseren Mitteln verteidigen. Das sind wir uns selbst, unseren Ideen und denen, die vor uns und mit uns gekämpft haben, schuldig.


Ein Feuer entzünden

Aber wieso jetzt angreifen, wieso jetzt das Risiko wagen, wieso jetzt Gefahr laufen, ein weiteres Mal überrollt zu werden? 2020 und 2021 waren nicht nur das Jahr von Pandemie und generalisierten Ausnahmezuständen, sondern auch von Aufständen und Revolten, größeren und kleineren Momenten, in denen die Verwundbarkeit dieser Welt zum Vorschein kam. Der Staat wird von verschiedenen Seiten in Bedrängnis gebracht. In Berlin organisierte ein von migrantischen Gruppen geprägtes Bündnis die Demo zum 1. Mai, die sich zum ersten Mal seit langem wieder als kämpferisch bezeichnen darf. Nicht nur in Neukölln, auch in Kreuzberg oder Schöneberg gibt es Menschen in den Kiezen, die sich nicht länger von den Bullen schikanieren lassen. In den Parks rebellieren vor allem Jugendliche gegen den autoritären Staat, der ihnen die Freizeit, das Sammeln von Erfahrungen außerhalb der gesellschaftlichen Normen, d.h. ihren eigenen Ausdruck zu verbieten versucht. Die „Take Back The Night“ Demo versammelte in diesem Jahr 3000 FLINTA, die sich ganz und gar nicht an die auferlegten Regeln der Bullen hielten. Nach dem Kippen des Mietendeckels zogen mehrere zehntausend wütende Mieter*innen spontan durch Kreuzberg und trieben die überraschten und überforderten Bullen vor sich her. 2020 versammelten sich Hunderttausende auf dem Alexanderplatz, um die Wut über den rassistischen Mord an George Floyd zu teilen.

Noch viel sichtbarer brennt es international: gegen rassistische Polizeigewalt in den USA, in feministischen Kämpfen in Mexiko, in Kolumbien, in Chile, in Malaysia, im Libanon und in Algerien … Sogar unvollständig zeigt diese Liste, dass es mit Sicherheit schlechtere Momente gab, um dazu beizutragen, diese Welt zu verändern und unsere Utopie von Freiheit zu verwirklichen. Vielleicht gab es aber auch selten bessere Momente oder wer von uns kann sich noch an einschneidendere Veränderungen erinnern, als die des letzten Jahres? Wir sind davon überzeugt: Lasst uns ein weiteres Feuer entzünden und es schüren!


Den Konflikt suchen

Es ist uns nicht wichtig, dass wir zu jeder Zeit dieselben Schwerpunkte haben oder dieselben Mittel einsetzen, um unsere Ideen zu verwirklichen und unseren Träumen Leben einzuhauchen. Viel eher wollen wir uns – mit diesem Haus – an den Kämpfen gegen das kapitalistische, patriarchale und rassistische System und für eine Welt frei von Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung beteiligen und dabei, an ihnen, über uns selbst hinauswachsen.

Konkret heißt das für uns die kommenden Tage und Wochen dafür zu nutzen, den Konflikt mit dem Bestehenden aktiv zu suchen. Wir nehmen den Angriff auf die selbstorganisierten Strukturen dieser Stadt ernst und stellen in Frage, ob unsere Feinde bereit sind, den Preis für das von ihnen angestrebte Ziel – die Zerstörung der Rigaer 94 – zu bezahlen. Wir werden nicht zahm hinter den Hamburger Gittern einer zu erwartenden „Roten Zone“ im Nordkiez warten, bis auch der allerletzte Presse- oder Nazischmutz in unserem Haus spazieren geführt wurde. Immer wieder, zuletzt im März, wurde uns klar, dass juristische Geplänkel und administratives Hin-und-Her uns nicht weiterbringen. Vielmehr sind wir in die von ihnen gestellte Falle getappt und haben uns, entgegen unserer politischen Überzeugung, teilweise befrieden lassen.

Auch deshalb werden wir nun dafür sorgen, dass der 17. Juni nicht der Anfang vom Ende dieses Hauses, sondern ein weiterer Schritt unser aller Selbstorganisierung wird. Wir wollen mit euch ein Szenario des Gegenangriffs erschaffen, das alljene empfindlich treffen wird, die direkt oder indirekt von diesem System der alltäglichen Verdrängung profitieren und es deswegen aufrecht erhalten.

Wir rufen euch auf den Angriff auf die alltägliche Ordnung der Stadt der Reichen zu unternehmen und zu intensivieren! Ob mit euren Stimmen oder Körpern, Farben, lautstark oder leise, mit Stein, Hammer oder Feuer – lasst uns dieser verkauften Stadt zeigen, dass wir uns entschieden haben, auf welcher Seite wir stehen. Öffentlich, am hellichten Tag oder verschwiegen in den noch übergebliebenen dunklen Ecken dieser Stadt. Zeigen wir einander, dass Zärtlichkeit, Solidarität, Autonomie und Selbstorganisierung keine hohlen Phrasen sind, sondern der Schlüssel zu unserer Freiheit, an dem wir täglich feilen. Lasst uns den Konflikt gegen Immobilienfirmen und Spekulant*innen, dynamische Start-Ups und ihre treuen Anhänger*innen, Bullen, städtische und staatliche Stellen in unseren Vierteln und darüber hinaus verschärfen und Position beziehen.

Wenn sie versuchen uns zu brechen, werden wir explodieren!
Die Stadt der Reichen angreifen!

Auf einen heißen Sommer!
Rigaer 94

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