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Angehörige von Opfern des Terrors in Hanau und die Rechercheagentur „Forensic Architecture“ halten eine Fluchttür am zweiten Hanauer Tatort für eine Todesfalle.
Armin Kurtovic ist sicher: „Diese verschlossene Tür hat meinen Sohn das Leben gekostet“, sagt er am Montag im Hanau-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags. Sein Sohn Hamza ist am 19. Februar 2020 in der Arena-Bar in Hanau-Kesselstadt erschossen worden, von einem Täter, der erst neun Menschen tötete, dann seine Mutter und sich selbst.
Said Etris Hashemi kam bei dem Attentat in der Arena-Bar* mit dem Leben davon, aber sein jüngerer Bruder Said Nesar wurde ebenso wie Hamza Kurtovic getötet. Mit ihnen waren noch drei weitere junge Männer an jenem Abend in der Bar. Auch Said Etris Hashemi ist sicher: „Wäre der Notausgang offen gewesen, hätten wir fünf überlebt.“ Bereits am Freitag sowie vor zwei Wochen hatten Angehörige im Untersuchungsausschuss ausgesagt.
Attentat von Hanau: Gutachten mit brisantem Ergebnis
Zu dem Ergebnis, dass sich mindestens vier, vermutlich sogar fünf Menschen vor den Schüssen des Attentäters hätten retten können, kommt auch eine Untersuchung, die Opfer-Angehörige bei der internationalen Rechercheagentur Forensic Architecture (FA) in Auftrag gegeben hatten. Said Etris Hashemi, der in der Bar mit angeschlossenem Kiosk lebensgefährlich verletzt wurde, berichtete am Montag vor dem Untersuchungsausschuss von dem Gutachten und übergab Ausschussmitgliedern Umschläge mit Text- und Videomaterial von der Rekonstruktion. Die SPD will beantragen, die Autor:innen des Gutachtens als Zeug:innen zu vernehmen.
Hashemi gehört zu einer ganzen Reihe von Zeug:innen, nach deren Angaben die Fluchttür stets versperrt war. „Das war uns klar gewesen, dass die Tür zu war“, sagte er aus. Einige formulieren den Verdacht, der Betreiber habe dies auf Anordnung der Polizei getan, damit diese bei Razzien leichter hätte agieren können. Die Polizei weist diese Vorwürfe zurück. Sie habe, im Gegenteil, zuletzt 2017 das Gewerbeamt der Stadt Hanau darauf hingewiesen, dass der Notausgang bei einer damaligen Kontrolle unerlaubterweise verschlossen gewesen sei.
Terror in Hanau: Die Blutspur des Täters
Der Täter hatte auf dem Parkplatz vor der Arena-Bar am Kurt-Schumacher-Platz zunächst Vili-Viorel Paun in dessen Auto erschossen, der den Täter vom ersten Tatort am Heumarkt verfolgt hatte. Dann betrat er den Kiosk und ermordete Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin und Ferhat Unvar. In der dahinter liegenden Bar tötete er Hamza Kurtovic und Said Nesar Hashemi. Dessen Bruder und ein anderer junger Mann wurden schwer verletzt, ein weiterer wurde nicht getroffen. Zuvor hatte der Terrorist in der Innenstadt bereits Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoglu und Sedat Gürbüz getötet.
Um das Geschehen in der Bar rekonstruieren zu können, hat FA den Angaben zufolge etwa auf Pläne des Gebäudes, Videos, Fotos und Angaben von Zeug:innen zurückgegriffen. Said Etris Hashemi erklärte im Ausschuss, sie hätten nicht zur Fluchttür rennen können, nachdem sie den Täter bemerkt hatten, weil „jedem von uns bekannt war, dass der Notausgang geschlossen ist“. Stattdessen suchten sie hinter einer Säule nahe der Theke vergeblich Schutz vor den 16 Schüssen, die der Rassist abfeuerte.
Für die Animation von FA seien ihre Laufpfade „gespiegelt“ worden, in Richtung Notausgang. Die Laufgeschwindigkeiten, die Zeitpunkte des Loslaufens und andere Parameter seien nicht verändert worden.
Attentat von Hanau: Erfolgreiche Flucht wäre wahrscheinlich gewesen
Das Resultat: Laut FA blieben neun Sekunden ab dem Zeitpunkt, an dem der Schütze bemerkt wurde, bis zu jenem, an dem er den Raum betrat. Vier der fünf Hanauer hätten den Notausgang in dieser Zeit demnach rechtzeitig erreicht. Einer wäre für 0,2 Sekunden im Sichtfeld des Attentäters gewesen, bei acht Metern Entfernung. Wenn man bedenke, dass seine Schussgenauigkeit bei 50 Prozent gelegen habe, sei es sehr unwahrscheinlich, dass die Person getroffen worden wäre, sagte Hashemi. Es handele sich um eine konservative Schätzung. Bei einer höheren Laufgeschwindigkeit wäre die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Flucht noch größer.
Das 2011 an der University of London gegründete interdisziplinären Team von Forensic Architecture, dem unter anderem IT-Expert:innen, Jurist:innen und Filmschaffende angehören, hat zum Beispiel zum NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel ermittelt, dass der in einem hinteren Raum des Internetcafés anwesende Verfassungsschützer Andreas Temme entgegen seiner Aussage den Schuss gehört haben müsse.
Hanau: Staatsanwaltschaft stellte Verfahren ein
Nach einer Strafanzeige von Armin Kurtovic hatte die Hanauer Staatsanwaltschaft zu dem Notausgang ermittelt. Sie stellte das Verfahren jedoch ein, weil es keinen hinreichenden Verdacht auf fahrlässige Tötung oder eine andere Straftat gebe.
Nach Auffassung der Behörde hätten die Opfer etwa fünf bis sechs Sekunden Zeit für eine gefahrlose Flucht gehabt, was womöglich nicht gereicht hätte, so die Staatsanwaltschaft. Zudem sei aufgrund widersprüchlicher Aussagen nicht sicher, ob die Tür an jenem Abend verschlossen war.
Hanau: Im Tatortbericht der Polizei ist von einer verschlossener Tür die Rede
Eine Reihe von Zeug:innen bestätigte, der Barbetreiber habe angeordnet, den Notausgang immer zu versperren. Andere hingegen sagten, er habe sich zumindest teilweise öffnen lassen, wenn auch schwer. Im Tatortbericht der Polizei war von einer verschlossenen Tür die Rede. Später, auf Nachfrage, sagten die Zuständigen, sie seien sich nicht mehr sicher. Möglicherweise habe die Fluchttür geklemmt.
Zu Beginn der Ausschusssitzung hatte der Vorsitzende des Gremiums, der SPD-Politiker Marius Weiß, die Abgeordneten ermahnt, sie sollten ein „würdevolles Verhalten“ an den Tag legen. „Es ist ein Mindestmaß an respektvollem Umgang, dass man den Zeugen die ganze Zeit zuhört“, sagte Weiß. Zuvor hatten Beobachter:innen in sozialen Netzwerken beklagt, einzelne Abgeordnete hätten sich während der Vernehmungen von Opfer-Angehörigen mit anderen Dingen beschäftigt.
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