Interview: Operation Solidarity in der Ukraine

In diesem Beitrag, der für Enough 14 übersetzt wurde, spricht die 161 Crew mit einem der Gründer*innen der ukrainischen anarchistischen Initiative Operation Solidarity über ihr  Projekt, die weltweite Solidarität von Libertär*innen und die Arbeit in einem komplexen Kriegsgebiet.

Übersetzt von Riot Turtle aus der englischsprachige Übersetzung von Batko Machno.

Zunächst erst mal vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, einige Fragen zu beantworten. Kannst du uns etwas mehr über Operation Solidarity erzählen?

OpSol ist eine Initiative von Freiwilligen und jetzt eine Organisation, die von libertären Sozialist*innen und Anarchist*innen in der Ukraine gegründet wurde, kurz vor der neuen Eskalation und dem ausgebreiteten russisch-ukrainischen Krieg. Wir konzentrieren uns auf vier allgemeine Bereiche:

  1. Unterstützung von Genoss*innen (antiautoritäre Aktivist*innen, Linke, Antifaschist*innen) im bewaffneten Kampf gegen die Besatzung;
  2. Unterstützung bei der Umsiedlung von Genoss*innen und ihren Angehörigen;
  3. Die Gemeinschaft von Aktivist*innen zu erhalten, die wir seit 2014 gebildet hatten;
  4. Unterstützung für Menschen in einer Weise, wie sie es brauchen und wir es anbieten können. Wir sind ein Netzwerk von verschiedenen Menschen, die sich durch gemeinsame Gefahren, unsere Ansichten, Absichten und Perspektiven zusammengeschlossen haben.

Die anarchistischen und antifaschistischen Bewegungen auf der ganzen Welt scheinen recht gut auf die Bedürfnisse der Genoss*innen in der Ukraine und Geflüchteten auf der Flucht vor dem Krieg zu reagieren. Würdest du dem zustimmen oder würdest du sagen, dass die Unterstützung nicht ausreicht?

Dem stimmen wir zu und wir haben nicht erwartet, dass eure Unterstützung so groß sein würde. Das ist eine tolle und inspirierende Sache für uns! Aber OpSol hat das Ziel, nicht nur unter politischen Bewegungen und Genoss*innen bekannt zu werden, sondern auch in der breiten Masse. Wir brauchen ihre Unterstützung, um unsere allgemeinen Ziele effektiver erreichen zu können und um in naher Zukunft gute politische Perspektiven aufzubauen. Der Krieg wird zu Ende gehen und wir müssen die Bewegung wieder aufbauen.

Was hat die Operation Solidarity in den ersten Wochen des Krieges bereits erreicht?

Wir haben zwei Lagerräume in Kyiv und in der Westukraine sowie Logistikketten und -routen organisiert, ohne dass es vorher Erfahrungen damit gab. Allein in der Ukraine haben wir etwa 30 Freiwillige, die Kommunikationsnetze und Lieferketten aufbauen. Wir waren an mehr als fünf Karawanen beteiligt, die Ausrüstung und humanitäre Hilfe transportierten. Über unsere sozialen Medien haben wir mehr als 50.000 Menschen erreicht und in etwa einer Woche mehr als 5.000 neue Follower in verschiedenen sozialen Medien gewonnen. Das ist nicht viel, aber wir haben noch nie zuvor solche Ergebnisse erzielt und haben außerdem die Mittel, um zu wachsen, das ist klar.

Und ja, Facebook/Meta ist scheiße. Dieses soziale Netzwerk ist der größte Alptraum aller Zeiten.

Kannst du uns etwas mehr über Anarchistinnen und Antifaschistinnen erzählen, die sich am bewaffneten Kampf gegen Putins Invasion beteiligen? Wir wissen, dass es ein Resistance Committee (RC) gibt, kannst du uns etwas mehr darüber erzählen? Gibt es Genoss*innen, die an anderen Orten als Kyiv kämpfen?

Über die Basics von RC und die Zusammenhänge kurz vor der Eskalation könnt ihr in diesem Artikel nachlesen (sehr empfehlenswert für alle)!

Es gab Menschen, die beschlossen, zu den Waffen zu greifen, um sich selbst, ihre Freund*innen und Familien, unsere kollektiven Errungenschaften und unsere Lebensweise zu schützen. Einige ausländische Genoss*innen waren überrascht und sogar verärgert über die Tatsache, dass wir in der Ukraine Widerstand geleistet, zu den Waffen gegriffen und uns gewehrt haben. Wir sind vom ukrainischen Staat nicht begeistert (er ist eher neoliberal als nazistisch oder stark autoritär) – er hat eine Menge Probleme wie ein oligarchisches System, Korruption, Zerstörung der sozialen Sicherungsnetze, Polizei- und Nazigewalt usw. Gleichzeitig ist die Ukraine ein Raum mit relativ geringer staatlicher Kontrolle, der auf der einen Seite wächst, auf der anderen Seite aber auch ein Raum des Aufbegehrens progressiver sozialer Kräfte ist.

Wir leisten also Widerstand, weil es um unsere Zukunft geht (physisch und politisch). Wenn Russland gewinnt, werden alle fortschrittlichen Dinge, die wir durch soziale Kämpfe erreicht haben, vergewaltigt, mit Füßen getreten und vernichtet. Schaut euch nur an, was Putin mit seiner Bevölkerung und auch mit unseren Genoss*innen macht, wie zum Beispiel im Netzwerk-Fall. Wir sehen ziemlich interessante und traurige Ähnlichkeiten mit dem Bürgerkrieg, der vor etwas mehr als einem Jahrhundert in der Ukraine stattfand. In Erinnerung an Nestor Machno und seinen Kampf, der einen starken politischen und ethischen Kern hatte, entschieden sich die Genoss*innen, gegen die Besatzung zu kämpfen, und nannten sich deshalb RC. Es gibt auch viele Menschen aus Belarus und Russland, die den Sturz ihrer eigenen Diktatoren herbeisehnen, um ihr Gesellschaftssystem und ihr Leben zu verbessern. Und ja, es gibt Genoss*innen, die in verschiedenen Städten der Ukraine kämpfen – auch sie sind Teil der RC.

Was würdest du denjenigen sagen, vor allem der westlichen Linken, die euch dafür kritisieren, dass ihr gegen Putins Invasion zu den Waffen gegriffen habt, und euch als Anarcho-Nato usw. bezeichnen?

Besucht uns! Kommt nach Charkiw, Mariupol. Sogar nach Kyiv. Schaut es euch mit eigenen Augen an und macht euch ein klares Bild von der Situation. Ihr könnt nicht zu Hause sitzen und warten, bis der Feind eure Stadt besetzt, um dann zu sagen: „Ok, jetzt ist es an der Zeit, Widerstand zu leisten.“ Du kannst nicht zu Hause bleiben und nichts tun, wenn Bomben auf deine Straßen und Köpfe fallen – denn du wirst sterben und alles verlieren. Du kannst jetzt nicht dasitzen und auf Twitter texten, wenn du irgendwelche politischen Pläne und Perspektiven hast, denn es ist ein umfassenden Krieg, und während du da sitzt, sind andere, ganz normale Menschen wie deine Nachbar*innen, auf der Straße.

Sie bauen Barrikaden, greifen zu den Waffen, lernen und leisten Widerstand. Du kannst nicht einfach nur dasitzen und deine alltäglichen Dinge tun, denn du wirst all deine Erfahrungen verlieren, deine Familie, deine Freund*innen, deine Genoss*innen, all die wunderbaren und schrecklichen Momente, die dir je widerfahren sind. Du wirst am Ende dein Leben verlieren. Wir wollen nicht sterben, wir wollen nicht fliehen, wir wollen nicht gehorchen, so ein Privileg haben wir nicht. Wir sind verdammt wütend und wir wollen unsere Freiheit!

Und ich möchte sagen, dass, wenn wir verlieren, die europäischen Länder die nächsten sein werden. Seid euch der pro-russischen Politik und der Aktivist*innen in euren Ländern bewusst (insbesondere der „Roten“).

Die Kreml-Propaganda redet viel über Azov, darüber, dass die ganze Ukraine nazistisch ist usw. Gleichzeitig seid ihr die Leute, die direkt gegen die Rechtsextremist*innen in der Ukraine gekämpft haben. Wie groß sind der tatsächliche Umfang und der Einfluss der rechtsextremistischen und neonazistischen Gruppen in der Ukraine?

Ich kann nur über den Kontext kurz vor Putins Eskalation sprechen – diese neue Realität bedarf einer viel tieferen Analyse, um etwas Objektives zu sagen. Ihr Einfluss auf die ukrainische Jugend war in den Jahren 2014-2016 auf dem Höhepunkt, aber etwa ab 2017 wurde ihre Bewegung vom ukrainischen Nachrichtendienst und der Polizei vereinnahmt. Die aufständischsten (radikalen, regierungsfeindlichen) Gruppen wurden zerschlagen. Ihre Anführer*innen und Mitglieder*innen wurden zur Zusammenarbeit gezwungen, in andere Länder oder ins zivile Leben abgeschoben, ins Gefängnis gesteckt oder sogar getötet (manchmal von ihren eigenen Kamerad*innen).

Im Jahr 2022 hatten sie keine breite Unterstützung, die Mehrheit der Menschen konnte sie nicht verstehen und war wütend über ihre Rhetorik und Aktionen (wie Angriffe auf Jugendliche aus subkulturellen Gruppen). Ältere Menschen waren von ihnen enttäuscht, weil die Neonazis 2015-2016 die Chance hatten, eine „nationale Revolution“ zu machen und alles so zu verändern, wie sie es wollten. Aber sie schienen politisch unfähig zu sein. Zusammenfassend lässt sich sagen: Ja, wir hatten hier viele Nazis und das Problem war groß. Aber nach 2017 begannen sie zu zerfallen. Kurz bevor der Krieg begann, hatten sie noch viele junge Leute in ihren Strukturen, aber diese Leute waren neu und politisch schwach, ihre Überzeugungen waren vage und wackelig und ihre Persönlichkeiten absolut lächerlich.

Soweit ich sehen kann, ist es im Moment ganz anders als 2014. Es ist eine Dominanz der populären und patriotischen Erzählung, eher als ihre Art von Nationalismus. Aber jeder neue Tag des Krieges kann ihre Popularität steigern.

Es scheint, als ob die ukrainische antiautoritäre Bewegung, zumindest wenn man sie von der Seitenlinie aus beobachtet, viel besser darauf vorbereitet ist, mit der entstehenden Situation umzugehen, als sie es 2014 während des Maidan und unmittelbar danach war. Kannst du das kommentieren?

Das ist wahr und ein absolutes Verdienst der organisierten Anarchist*innen und libertären Sozialist*innen. Selbstorganisation, Selbstdisziplin, tiefe theoretische Einbindung und Interesse, Reflexion und Analyse, Zielsetzung und Planung, Verantwortung, ein besonnenes Leben, Zusammenarbeit und der Wille, die Utopie zu erreichen, haben das alles möglich gemacht. Wir sind noch weit von dem entfernt, was wir sehen wollen, aber selbst dieses Ergebnis gibt uns Zuversicht und zeigt uns die Wirklichkeit: Unsere Träume sind möglich! Und ich persönlich kann es jeden Tag an dem sehen, was OpSol tut.

Wird dieser Krieg deiner Meinung nach die extreme Rechte in deinem Land stärken? Es scheint, als wäre Putins Invasion ein perfektes Geschenk für sie, das es ihnen ermöglicht, als „Verteidiger*in des Vaterlandes“ zu punkten, Erfahrungen und Ausrüstung zu sammeln?

Ja, absolut! Wir haben es 2014 gesehen, als es extrem gefährlich und praktisch schwierig wurde, sich in der Ukraine als Antifaschist*in zu outen. Das liegt alles an der Vermischung der Narrative. Putin nennt seine Maßnahmen „Entnazifizierung“ und „Antifaschismus“ – das ist absoluter Schwachsinn. Antifaschist*innen bombardieren keine Kinder und alten Menschen, sie werfen keine Thermobomben auf Zivilist*innen oder verwenden Phosphor, sie hinterlassen oder verbrennen nicht absichtlich die Leichen von Soldat*innen, um ihren Familien kein Geld zahlen zu müssen, sie benutzen die eigenen Leute nicht als Kanonenfutter. Wir zerstören keine Städte und hinterlassen keine verbrannte Erde. Nein. Das tun Faschist*innen.

Wie ist die Lage in Kyiv im Moment? Erwartest du bald einen Angriff der russischen Truppen auf die Stadt? Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Vor einer Woche war es eine postapokalyptische Filmszene. Wir warteten auf Umzingelung, Belagerung und den Einsatz von Chemiewaffen. Aber jetzt kehrt das Leben zurück, sogar Cafés und Restaurants öffnen wieder (lol). Die ukrainische Armee hat einen erfolgreichen Gegenangriff gestartet und Putins Invasoren etwa 30 bis 70 km von Kyiv zurückgeworfen. Aber die Lage ist immer noch sehr angespannt.

Wir werden jede Nacht beschossen, Menschen sterben, Gebäude stürzen ein. Erst gestern haben die Besatzer*innen das große Gebäude des Einkaufszentrums zerstört und mindestens acht Menschen getötet. Wir haben es in unserem Haus durch den Lärm und die Schockwelle gespürt. Außerdem gibt es unerwartete Ausgangssperren wegen Saboteur*innen, die uns die Arbeit erschweren und wertvolle Zeit kosten. Ich schreibe meine Antworten und werde den ganzen Tag bis zum nächsten Morgen im Hauptquartier bleiben.

Egal was passiert, alle sind sich sicher, dass wir standhalten und gewinnen werden.

Wie können Menschen im Ausland euch bei eurem Kampf unterstützen?

Stürzt eure unfähigen und schlechten Regierungen, um eine Gesellschaft ohne Kriege, Elend, Gewalt und Lüge zu schaffen… 😉

Ok, ernsthaft, wir brauchen finanzielle Mittel. Ihr könnt selbst helfen, indem ihr uns Helme der Klasse IIIA NIJ, Platten der Klasse IIIA NIJ/4 und kugelsichere Westen, individuelle Erste-Hilfe-Kästen (IFAK) kauft und uns Fahrzeuge schickt. Für unsere Genoss*innen und Menschen brauchen wir Unterkünfte und Arbeitsplätze, um zu arbeiten, Geld zu verdienen und Menschen im Widerstand zu unterstützen. Es wäre schön, wenn einige Genoss*innen Kooperativen organisieren würden, damit sie gute Sachen für uns machen und gleichzeitig Selbstverwaltung praktizieren können. Revolutionäres Bingo!

Für unsere Genoss*innen brauchen wir Hallen und Orte für Versammlungen, Unterstützung für ihre Aktionen. Manche Freund*innen können die Grenze nicht legal überqueren, aber für sie ist es besser, draußen zu bleiben. Das ist also eine andere Richtung. Vielleicht ist das alles, was ich im Moment dazu sagen kann.

Vielen Dank für das Interview. Möchtest du abschließend noch etwas sagen?

Bewahrt die Flamme in euch, organisiert euch, haltet zusammen, steht füreinander ein, übernehmt Verantwortung für euer Leben, arbeitet zusammen, bietet Solidarität an, habt keine Angst vor irgendjemandem und irgendetwas. Organisiert euch und leistet Widerstand, um eine bessere Welt zu schaffen!

Wir umarmen euch alle herzlich und sind dankbar für alles, was ihr für uns getan habt und tut. Mit eurer Solidarität werden wir gewinnen!

Mehr Informationen:

Blog: https://operation-solidarity.org/

Telegram Kanal: https://t.me/solidarnistinua

Unterstützung für Operation Solidarity (Spenden): https://operation-solidarity.org/donate/

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