Gates noch!? Das System ist gemein, aber nicht geheim
Beim Impfen werden wir alle vergiftet, China hat das Corona-Virus entwickelt und Bill Gates ist der Teufel höchstpersönlich und will die Weltbevölkerung reduzieren um eine neue Weltordnung zu installieren. Und das alles im Geheimen. Klingt ganz schön abgefahren? So ist es auch. Aber Verschwörungstheorien haben gerade regelrecht Hochkonjunktur.
Mitten in der weltenweiten Corona-Krise findet sich in Deutschland und Österreich eine neue Straßenbewegung. Die Zusammensetzung dieser sog. „Hygiene-Demos“ bilden einen klassenübergreifenden Zusammenschluss von Liberalen bis hin zu Neonazis. Dazwischen tummeln sich Impfgegner*innen, Hippies, Anhänger von spinnerten Influencern und D-Promis. Auf den ersten Blick geht es gegen die Aufweichung von Grundrechten während der aktuellen Pandemie. Doch die wilde Mischung von „Corona-Rebellen“ verbindet vor allem die antisemitische Vorstellung, dass eine bestimmte Gruppe, die kosmopolitisch und global vernetzt ist (WHO, Wissenschaft usw.), die weltweite Pandemie steuert und gezielt einsetzt. Der tatsächliche Missbrauch der Pandemie zum Abbau von Grundrechten, wie die weiteren Einschränkungen des Asylrechtes oder des Arbeitsschutzes, ist dagegen kaum Thema. Und mit Gesellschaftskritik hat das alles nichts zu tun.
Der autoritäre und teils widersprüchliche Umgang des Staates mit dem Corona-Virus hält als Indiz dafür her, dass an der offiziellen Geschichte etwas nicht stimmen soll. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine kritische Nachfrage auf Ungereimtheiten zur Wahrheitsfindung, sondern vielmehr läuft es in Verschwörungstheorien andersherum. Die Verschwörer stehen schon fest, bevor überhaupt Beweise für das heimliche Komplott gesucht werden.
Die Behauptung, Einzelne besonders „gierige“ würden die entscheidenden Ämter in der Regierung, den Medien und der Wirtschaft der Welt kontrollieren, zeigt ein typisches Merkmal einer Verschwörungstheorie. Da wird ein „parasitäres Fremdes“ der eigenen Gesellschaft gegenübergestellt, welches mittels Lügen, Täuschung und Kalkül gegen das „ursprüngliche und natürliche“ Eigene – hier meist das „gute“ Volk – vorgeht.
Dieses idyllische und harmonische Bild von der eigenen Gesellschaft schafft die Grundlage dafür, dass Konflikte immer als von außen kommend beziehungsweise von einer kleinen, geheimen Gruppe verursacht gesehen werden. Dabei ist die Frage, wem die Sache nützen könnte, entscheidend dafür, wer oder was in die Opfer- bzw. Täterrolle gepackt wird.
Die Möglichkeit eines überforderten Staatspersonals im Angesicht eines marktwirtschaftlich zugrunde gerichteten Gesundheitssystems und einer realen Bedrohung durch das Corona-Virus wird von Anfang an ausgeschlossen.
Der besondere Charakter der Verschwörungstheorien führt nicht nur zu rückschrittlichen Weltbildern, sondern behindert ganz allgemein das eigene kritische Denken und bietet damit Futter für vielerlei ideologischen Quatsch.
Verschwörungstheorien und rückschrittlich? Hinterfragen sie nicht gerade Autoritäten wie Regierungen? Ja, aber das ist noch lange nicht emanzipatorisch. Einzelne Menschen, Gruppen oder Institutionen für alles Unheil verantwortlich zu machen, ist eine reine Problemverschiebung. Alles bleibt schön übersichtlich und die vielen verschiedenen gesellschaftlichen Interessen der Menschen bleiben außen vor. Sie mögen manchmal eine gesellschaftskritische Motivation haben. Allerdings lässt sich mit ihnen die bestehende patriachal-kapitalistischeGesellschaftsordnung weder verstehen noch überwinden. Indem sie personifizierend wirken, blenden sie die Komplexität der Gesellschaft aus.
Kein Wunder, dass die selbsternannten „Rebellen“ faktisch die Rückendeckung von einem Bündnis aus Industrieverbänden und der Springer-Presse bekommen. „Kippt die Stimmung?“ fragt die bürgerliche Presse scheinheilig auf Seite eins, während sie den Haufen, wie damals Pegida, fleißig hochschreibt und ihm direkt eine öffentliche Prominenz einräumt, auf den linke Bewegungen lange warten müssen. Dabei ist die von den Anti-Lockdown-Demos geforderte „Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität” mittlerweile längst beschlossene Sache. Damit droht eine zweite, tödlichere Covid-19-Infektionswelle. Und wer ausdrücklich „weder links noch recht sein“ will, ist meistens rechts und steht damit immer auf der Seite von Staat und Nation. Das zeigt: Die vermeintlichen „Rebellen“ sind da vor allem eins: nützliche Handlanger*innen für Kapital und Wirtschaftsstandort.
So schön es wäre, wenn es sich dort um die „richtige“ Unzufriedenheit handeln würde, die sich nur an die falsche Adresse richtet – dem ist leider nicht so. Konkreter Widerstand gegen die Aufweichung von Grundrechten und soziale Ungerechtigkeit, wie #LeaveNoOneBehind und #Pflegenotstand , ist gerade während der Pandemie nötig – die antimodernen Aufmärsche von Esoterikern, Faschisten und Frustrierten sind es nicht. Im Gegenteil: sie wirken zu allem Überfluss noch als Türöffner für die AfD in neue Milieus. So schafft man das Kunststück, angesichts einer mehrfachen Krise des Kapitalismus reaktionärer als die Regierung zu sein.
Es ist höchste Zeit, dem wöchentlich anwachsenden reaktionären Wahn bundesweit auf der Straße etwas entgegen zu setzen. Die antifaschistische Linke muss jetzt solidarische Alternativen aufzeigen und gegen die Versammlungen selbst aktiv werden. Sei es auf der Straße, im Netz oder im Alltag dieser neuen Krisennormalität. Recherchiert, protestiert und greift ein!
Ein Flugblatt zu diesem Thema zum Herunterladen, Ausdrucken und Weitergeben findet ihr hier (pdf).
checkt basisgruppe-antifa.org
Hallo Leute,
ich finde Euer Flugblatt ganz ok, frage mich allerdings, warum Ihr den Verschwörungswahn zur Verschwörungstheorie adelt. Verschwörungstheorie ist ein Widerspruch in sich. Es ist ja nicht so, dass hier Leute eine Theorie hätten, denn dann könnte man sich mit ihnen rational auseinandersetzen. Auch haben sie keine Argumente, denn über Argumente lässt sich streiten. Ein Wahn unterscheidet sich von einer Theorie dadurch, dass er gegen Argumente hermetisch abgedichtet ist. Was er als „Argumente“ vorbringt, sind sekundäre Rationalisierungen, die dem Wahn Plausibilität verleihen sollen (siehe Freud). Keineswegs aber werden, wie Ihr schreibt, „Beweise“ gesucht. Wahn braucht keine Beweise. Entweder man ist drin — ich meine, im Wahn — oder eben nicht. Zwar kann man gesellschaftliche Gründe für die Entstehung des Wahns angeben, aber den Wahn und seine Äußerungen selbst mit Worten und Begriffen zu bedenken, die nur in der vernünftigen Diskussion ihre Berechtigung haben, ist ganz falsch und leistet der Legitimation des Wahns Vorschub.
Zum Beispiel Euer Satz: „Der besondere Charakter der Verschwörungstheorien führt nicht nur zu rückschrittlichen Weltbildern, sondern behindert ganz allgemein das eigene kritische Denken und bietet damit Futter für vielerlei ideologischen Quatsch.“ Nein, nein, und nochmals nein. Verschwörungswahn behindert nicht kritisches Denken, er ist das genaue Gegenteil von Denken, ob kritischem oder unkritischem. Auch bietet er kein Futter für Ideologie, er ist Ideologie.
Und welcher Teufel reitet Euch, wenn Ihr diesem reaktionären Pack auch noch zugesteht, dass es „Autoritäten wie Regierungen“ „hinterfragt“? Merkt Ihr nicht, dass Ihr Euch damit auf ein und dieselbe Gesprächsebene mit diesen Arschlöchern begebt? Der Unterschied ist dann nicht mehr der zwischen Verschwörungswahn und Gesellschaftskritik, sondern nur noch zwischen zwei Antworten auf dieselbe „Hinterfrage“. Dabei ist es doch das Einmaleins der Kritik, dass sie sich nicht an den Antworten, sondern an den Fragen abzuarbeiten hat. Nicht falsche Antworten auf eine gegebene Frage sind Gegenstand der Kritik, sondern die Frage selbst. Schon die Frage „wer ist dafür verantwortlich?“ geht in die Irre, weil sie voraussetzt, dass die Menschen ihre Geschichte aus freien Stücken machen. Dass dem nicht so ist, ist das Salz der Gesellschaftskritik.
Vollends unglaublich finde ich, dass Ihr Euren „Verschwörungstheoretikern“ auch noch „gesellschaftskritische Motivationen“ unterjubelt, wenn auch nur „manchmal“. Das erinnert dann doch sehr an die Versuche der KPD in der Weimarer Republik, im Revier der NSDAP zu wildern und deren „Kritik“ am „jüdischen Kapital“ propagandistisch zur Kritik am Kapital überhaupt zu verallgemeinern.
Und dann faselt Ihr wie im Proseminar über die „Komplexität der Gesellschaft“, die durch Personifizierungen „ausgeblendet“ werde. Was bitte schön ist „komplex“ an einer Gesellschaft, die alles über den einen idiotischen Leisten der Profitproduktion schlägt, und wenn die Welt (zumindest die für Menschen bewohnbare) dabei zugrunde geht?
Auch ist nicht „meistens“ rechts, wer weder rechts noch links sein will, oder kennt Ihr etwa Gegenbeispiele?
Und man kann diesem Pack alles Mögliche nachsagen, aber dass sie „antimodern“ sind, gewiss nicht. Wie modern sie im Gegenteil sind, sagt Ihr ja selbst: Sie sind der Stoßtrupp der Wirtschaft. Schon die Kritik am NS als „antimodern“ war grundfalsch, denn was gibt es Moderneres als die Industrie.
Am Ende angelangt, muss ich meinen einleitenden Satz revidieren: Zu viel Halbgares findet sich in Eurem Flugblatt, als dass ich es noch „ganz ok“ finden könnte.
Solidarische Grüsse,
Einer von Vielen
Herzlichen Dank für diesen hervorragenden Artikel!
Mensch sollte ihn in jeden Briefkasten dieser Stadt werfen.
Es ist jetzt auch wichtig, die Stimme gegen die „Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben.“-Zyniker (Kubicki) zu erheben und Solidarität einzufordern mit denen, die gegenüber dem Virus am verletzlichsten sind.
Grüße aus der Neustadt, T.