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Anarchist*innen an der polnisch-belarussischen Grenze
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sind fast vier Millionen Menschen geflohen. Doch dies sind kaum die einzigen Flüchtlinge, die heute aus kriegsgebeutelten Ländern fliehen. Seit 2021 hat die Regierung von Belarus Tausende von Flüchtlingen, die durch Kriege in Syrien, Afghanistan, Irak, Äthiopien und anderswo vertrieben wurden, zynisch als Druckmittel eingesetzt (einige deutsche Politiker*innen und Journalist*innen haben daraufhin Geflüchtete aus Belarus als »hybride Waffen« bezeichnet), um Druck auf die Europäische Union auszuüben. Die EU-Regierungen haben darauf kaltschnäuzig reagiert, indem sie diese Flüchtlinge in der Vorhölle zwischen zwei militarisierten Grenzen gefangen ließen und eine Sperrzone einrichteten, um sicherzustellen, dass Beobachter*innen sie nicht sterben sehen können. Trotzdem haben sich die im No-Borders-Team organisierten Anarchist*innen den Beschränkungen widersetzt, um den Flüchtlingen im Namen einer Welt ohne Grenzen zu helfen. Wir sprachen mit Anarchist*innen, die an der Grenze zwischen Polen und Belarus aktiv sind, um mehr zu erfahren.
Hier könnt ihr für das No Borders Team spenden.
Hintergrundinformationen zu den Bemühungen um gegenseitige Hilfe in Polen während der COVID-19-Pandemie findest du in diesem Artikel. Wie Freiwillige sich mit Migrant*innen an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko solidarisieren, erfährst du hier. Lies dieses Interview mit syrischen Exilant*innen, um die Perspektive von Migrant*innen kennenzulernen.
Eine Geschichte von zwei Grenzen
In den letzten Wochen hat sich die polnische Regierung für die Aufnahme der Millionen von Flüchtlingen gelobt, die vor der russischen Invasion in der Ukraine fliehen. Unzählige Menschen in Polen haben den Müttern, Kindern und älteren Menschen, die Tag für Tag nach Polen kommen, ihre Solidarität bekundet, indem sie den Ankommenden an den Bahnhöfen Transportmöglichkeiten anboten und bereitwillig ihre Häuser für Fremde öffneten. Doch seit Monaten frieren und hungern an der nordöstlichen Grenze Polens Migrant*innen aller Altersgruppen aus dem Irak, Syrien, Afghanistan und anderen kriegszerrütteten Ländern, die in dem Grenzstreifen zwischen Polen und Belarus gestrandet sind. In einer Zeit, in der es weltweit mehr gewaltsam vertriebene Menschen gibt als je zuvor in der Geschichte, wirft diese Katastrophe ein Schlaglicht auf die Ressentiments der Europäischen Union gegenüber nicht-weißen Migrant*innen und deutet auf eine Zukunft hin, in der Regierungen vertriebene Bevölkerungsgruppen systematisch als politische Druckmittel einsetzen werden.
Gleichzeitig zeigen anarchistische Kollektive in Polen und anderswo in Europa, wie wir einer solchen Zukunft entgegentreten können, indem sie sich – trotz einer Atmosphäre von Angst, Vorurteilen und Gewalt – in Solidarität mit Migrant*innen aus dem Nahen Osten und Afrika organisieren.
Mitte 2021 lockte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko Menschen, die verzweifelt vor bewaffneten Konflikten in Afghanistan, Syrien, der Demokratischen Republik Kongo und anderen Teilen Asiens und Afrikas flohen, mit dem Versprechen einer sicheren Migrationsroute durch Belarus in die Europäische Union. Bei ihrer Ankunft in Minsk wurden sie von belarussischen Soldat*innen festgehalten und gezwungen, die Grenzen zu Polen, Litauen und Lettland außerhalb der offiziellen Kontrollpunkte zu überqueren.
Seit mehr als sechs Monaten werden nun Tausende von Frauen, Männern und Kindern als Spielfiguren in einem Machtkampf zwischen Lukaschenkos Regierung und der Europäischen Union behandelt, indem sie wiederholt mit Waffengewalt gezwungen werden, abseits der regulären Grenzübergänge in die EU einzureisen, und dann von den Grenzbeamt*innen dieser Länder sofort wieder nach Belarus zurückgeschoben werden. Ihnen wird der Zugang zu Unterkünften, Nahrungsmitteln, medizinischer Behandlung und Rechtsbeistand verweigert. Im Februar wurden in den Wäldern und Sümpfen entlang der polnisch-belarussischen Grenze mindestens neunzehn Leichen von mutmaßlichen Migrant*innen gefunden.
Seit den ersten Tagen dieser Krise hat sich ein Netzwerk polnischer anarchistischer Kollektive, das No Borders Team (NBT), mit den Anwohner*innen des Grenzgebiets zusammengetan, um diese Migrant*innen mit Lebensmitteln, Wasser, Decken, medizinischer Versorgung und anderen lebensnotwendigen Gütern durch solidarische Hilfe zu versorgen. Für das No Borders Team sind diese Bemühungen Teil einer langjährigen Zielsetzung, die Grenzen zwischen den Nationen zu beseitigen und ihren schädlichen Auswirkungen entgegenzuwirken.
»In den letzten Wochen haben wir in Polen einen enormen sozialen Aufruhr erlebt«, sagt J- von NBT. »Tausende von Menschen nahmen ukrainische Familien unter ihrem Dach auf. Eine Zeit lang gab es sogar zu viele Menschen, die helfen wollten, als ob die Pol*innen mit dieser großen Bewegung ihre Passivität gegenüber den Migrant*innen an der belarussischen Grenze abstreifen wollten. Diese aufgehaltenen Familien werden immer noch in den Wald geworfen«.
Es wird vermutet, dass Lukaschenko, der seit 1994 Präsident von Belarus ist, die erzwungene Migration inszeniert hat, um die Spaltung der EU in Bezug auf ihre Migrationspolitik auszunutzen und die Region zu destabilisieren, als eine Art Vergeltung für die Kritik der EU-Regierungen an seinem autoritären Regime und das Verhängen von Sanktionen gegen Belarus. Als erklärt wurde, dass er 2020 eine sechste Amtszeit als Präsident gewinnen würde, lehnten die EU und zahlreiche andere Länder die Ergebnisse ab, da sie weithin der Meinung waren, dass die Wahl manipuliert worden war. Die EU hat auch Wirtschaftssanktionen als Reaktion auf die von Lukaschenkos Regierung begangene Menschenrechtsverletzungen verhängt. So wurde im Mai 2021 ein Ryanair-Passagierflug von Griechenland nach Litauen zur Landung in Minsk gezwungen, um einen Oppositionsaktivisten zu verhaften. Die belarussische Wirtschaft ist weitgehend von Russland abhängig, da das Lukaschenkos einziger verbliebener Verbündeter ist. Als es 2020, als Reaktion auf Lukaschenkos gefälschte Wiederwahl, wochenlang zu Protesten kam, bot der russische Präsident Wladimir Putin an, das russische Militär zu schicken, um gegen die Opposition vorzugehen.
2021 reagierte Lukaschenko auf die von der EU nach dem Ryanair-Vorfall verhängten Sanktionen, indem er drohte, seine Regierung werde Migrant*innen ohne Papiere nicht länger daran hindern, über Belarus nach Litauen zu gelangen.
Es entstand ein klarer Menschenhandel, da staatliche Fluggesellschaften und Reisebüros in Ländern wie dem Irak, der Türkei und Äthiopien mit ermäßigten Preisen für »Touren« nach Belarus warben und Belarus als vermeintlich sichere Route in die EU anpriesen; gleichzeitig begannen belarussische Beamt*innen, mehr Visa auszustellen und ihre Vorschriften zu lockern. Nachdem sie an die Ostgrenze der EU transportiert und in Lagern auf Militärstützpunkten untergebracht worden waren, erhielten die Migrant*innen Drahtscheren und wurden von belarussischen Beamt*innen gezwungen, den Stacheldrahtzaun durchzuschneiden und die Grenze außerhalb der offiziellen Kontrollpunkte zu überqueren. Im Oktober war Belarus dazu übergegangen, Tausende von Migrant*innen an die EU-Grenze zu schmuggeln. Dennoch behauptete Lukaschenko im November 2021, die belarussischen Behörden hätten lediglich aufgehört, Migrant*innen daran zu hindern, die EU-Grenze zu erreichen.
Während westliche Regierungen Lukaschenko vorgeworfen haben, diese Menschen in einem »hybriden Angriff« als Waffen gegen die EU zu benutzen, hat Putin das Vorgehen des belarussischen Präsidenten verteidigt, wie er es in der Vergangenheit oft getan hat. Der Einfluss Russlands auf Belarus zeigt sich seit Februar darin, dass russische Truppen Belarus als Aufmarschgebiet für den Einmarsch in die Ukraine nutzen durften.
Die Teilnehmer*innen des No Borders Team vermuten, dass Lukaschenkos strategischer Einsatz von Flüchtlingen zur Destabilisierung der EU von Anfang an mit Putins Machenschaften gegen die Ukraine verbunden war. »Unsere Aktivitäten an der Grenze zu Belarus standen von Anfang an im Zusammenhang mit der politischen Situation in der Ukraine«, sagt J-. »Es war uns bewusst, dass einer der Gründe für die Maßnahmen der belarussischen Behörden die Destabilisierung der Lage in der Region sein könnte, mit dem Ziel, die russischen Militäroperationen in der Ukraine zu erleichtern. Niemand war sich sicher, dass ein solcher Angriff stattfinden würde, und das Ausmaß der Aggression hat die meisten von uns sicherlich überrascht, aber wir haben gesehen, wie die menschliche Tragödie an der Grenze als Teil des Machtspiels in Moskau instrumentalisiert wurde.
Die Tragödie, die sich aus diesem Machtspiel ergibt, ist aber auch das Ergebnis der Strategie, mit der die polnische Regierung reagiert hat – eine Strategie, die der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und mehrere Menschenrechtsorganisationen scharf verurteilt haben. In einer Taktik, die allgemein als »Pushback« bekannt ist, treiben polnische Grenzschutzbeamt*innen, Soldaten und Polizist*innen Menschen zusammen, denen es gelungen ist, die Grenze zu überqueren, und zwingen sie sofort, außerhalb der offiziellen Grenzübergänge wieder nach Belarus einzureisen, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, den Flüchtlingsstatus zu beantragen. Obwohl die polnische Regierung die Vorschriften geändert hat, um dies zu ermöglichen, und das Parlament im Oktober ein Gesetz verabschiedet hat, das diese Abschiebungen angeblich legalisiert, verstößt diese Praxis eindeutig gegen internationales und europäisches Recht, da den Menschen das Recht verweigert wird, Asyl zu beantragen.
Im November eskalierte der polnische Grenzschutz seine Gewalt gegen die Migrant*innen, indem er Wasserwerfer und Tränengas auf Menschen abfeuerte, die versuchten, die Grenze zu überqueren. Viele derjenigen, die nach der Einreise nach Polen aufgegriffen werden, werden in bewachten Haftanstalten festgehalten, oft monatelang am Stück.
In einem Zentrum in Wędrzyn haben inhaftierte Migrant*innen zwei verschiedene Hungerstreiks gegen die dortigen Bedingungen durchgeführt . NBT verfügt über Teams, die in diesen Lagern festgehaltene Menschen mit lebenswichtigen Gütern versorgen und in einigen Fällen Menschen, die einen Asylantrag stellen wollen, mit rechtlichem Beistand in Verbindung bringen konnten.
Der polnische Präsident Andrzej Duda verhängte am 2. September 2021 den Ausnahmezustand über Teile der an Belarus angrenzenden Regionen Podlaskie und Lubelskie. Mit dem Ausnahmezustand wird eine Drei-Kilometer-Zone entlang der Grenze eingerichtet, die niemand legal betreten darf, auch nicht Journalist*innen, Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Beobachter*innen. Jede*r, die*der die Sperrzone betritt, um humanitäre Hilfe zu leisten, riskiert, verhaftet oder mit einer Geldstrafe belegt zu werden. »Seit die Zone Anfang September eingerichtet wurde, werden keine Sanitäter*innen mehr hineingelassen«, sagt D. »Selbst wenn jemand im Wald im Sterben lag, ließen die Soldat*innen an der Grenze niemanden hinein.« Während die Grenzbeamt*innen medizinische Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen abgewiesen haben, konnten einige Mediziner*innen unbemerkt in das Grenzgebiet eindringen, um Migrant*innen zu behandeln, die an Unterkühlung und Verletzungen infolge der gewaltsamen Übergriffe polnischer und belarussischer Beamt*innen leiden.
F-, eine Aktivistin von NBT, sagt, dass fast alle teilnehmenden Aktivist*innen in Erster Hilfe ausgebildet sind. Wenn sie im Wald auf Menschen treffen, die um Hilfe gebeten haben, kümmern sie sich in der Regel zuerst um deren medizinische Bedürfnisse und geben ihnen dann etwas Warmes zu essen und zu trinken. »Je nach Person, die man antrifft«, sagt sie, »hilft man ihnen manchmal nur beim Wechseln der Klamotten und geht dann, weil sie eigene Pläne haben, aber manchmal verbringt man auch etwas mehr Zeit mit ihnen. Man sitzt zusammen, teilt die Decken, teilt die Kälte. Du trinkst Tee und hörst dir ihre Geschichten an, und sie zeigen dir die Fotos ihrer Kinder und ihrer Familien auf ihren Handys.« F- hat in der Grenzzone viele interessante Menschen kennengelernt, darunter auch einige, die in ihren Herkunftsländern politische Aktivist*innen waren, die sich für Randgruppen einsetzten und sich nun auf der anderen Seite des Prozesses in der EU wiederfinden.
D- sagt, dass sie mehreren Menschen begegnet sind, die in einem so schlechten Zustand waren, dass sie Angst hatten, sie könnten sterben. Obwohl die NBT-Aktivist*innen bei ihrer Arbeit noch keine Toten zu beklagen hatten, sind sie Menschen begegnet, die schwer geschlagen wurden, darunter auch einige Kinder, und Frauen, die wiederholt vergewaltigt wurden, in den meisten Fällen von belarussischen Soldaten, aber auch von polnischen Offizieren. »Es ist erstaunlich, wie sie dort überleben können«, sagt er und merkt an, dass einige Migrant*innen völlig unvorbereitet auf das hiesige Gelände und Wetter waren, da sie aus dem Nahen Osten stammen. Aktivist*innen haben sie mit Planen, Karten, Schlafsäcken und neuer Kleidung versorgt und ihnen manchmal gezeigt, wie man eine provisorische Unterkunft baut.
Die Menschen, die in der Notstandszone entlang der Grenze leben, waren die ersten, die auf die humanitäre Krise vor ihrer Haustür reagierten. »Ein großer Teil der Hilfe für die Menschen, die nach der Einrichtung der No-Go-Zone im Wald festsaßen, wurde von den Einheimischen geleistet«, sagt F-. Trotz der ständigen Bedrohung durch die Polizisten, die mit Hubschraubern in dem Gebiet patrouillieren, haben viele Einwohner*innen von Anfang an riskiert, verhaftet zu werden, indem sie sich in den Wald wagten, um den dort gestrandeten Migrant*innen lebensrettende Hilfe zu bringen, und immer wieder versuchten, den in den Haftanstalten Festgehaltenen Hilfe zu leisten.
D- spricht über die Verbindungen, die die anarchistischen Aktivist*innen im Laufe der gemeinsamen Arbeit mit den Anwohner*innen aufgebaut haben. »Es war wirklich beeindruckend für uns, weil Polen ein super konservatives Land ist, die Organisierung der Menschen vor Ort zu sehen, die vorher keine Aktivist*innen waren.« Viele von ihnen, sagt er, teilen die Ansicht von NBT über die Regierung, nachdem sie gesehen haben, wie Menschen im Wald starben.
Das Verbot für die Medien, das Grenzgebiet zu betreten, hat es den Grenzbeamt*innen ermöglicht, »wie Cowboys« zu agieren, so F-. Sie sagt, dass auf Menschen, die dort Hilfe leisten, Waffen gerichtet wurden, sie aus ihren Autos gezerrt wurden und ihnen die Wachen ihre Telefone weggenommen haben. »Sie können alles tun«, sagt F-. »Niemand kann sie sehen, niemand kann sie verurteilen, und niemand wird es je erfahren.«
»Es gibt einige verdeckte Polizist*innen, die uns verfolgen«, sagt J-. Die Gruppe glaubt, dass die Polizei den Standort ihrer Basis kennt, wo sie sich treffen und die Gegenstände lagern, die sie verteilen. J- sagt jedoch, dass sie viele Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Er zieht es vor, nicht ins Detail zu gehen, wie die NBT-Freiwilligen ihre Aktivitäten durchführen, aber er sagt, dass es hilfreich ist, dass sie ein großes Netzwerk bilden und Informationen leicht untereinander austauschen können. Die im Wald gestrandeten Migrant*innen wissen, wie sie mit ihnen in Kontakt treten können, und teilen ihnen mit, wo sie sich befinden, so dass die Mitglieder des Netzwerks auf Hilferufe reagieren können. Diejenigen, die auf diese Hilferufe reagieren, reisen in Gruppen und passen aufeinander auf.
Der vielleicht eklatanteste Unterschied zwischen den Reaktionen der polnischen Regierung auf die beiden Krisen besteht laut F- darin, dass die Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine nicht kriminalisiert wird. »Um Menschen aus der Ukraine zu unterstützen, muss man sich nicht im Wald vor den polnischen Behörden verstecken. Man muss zu Hause nicht die Vorhänge zuziehen, wenn man einen Flüchtling aufgenommen hat, man muss nicht befürchten, dass die Polizei oder die Streitkräfte einen auf den Boden werfen, dass sie einen einschüchtern, weil man mit Suppe und einer warmen Jacke zu den Menschen, die auf der Flucht sind, geht.«
»Obwohl wir von dem Ausmaß der von den Pol*innen geleisteten Hilfe beeindruckt sind, können wir nicht übersehen, dass es sich um eine selektive Hilfe handelt«, sagt J-. »Während ukrainische Mütter mit Kindern auf Unterstützung zählen können, haben es Männer und Menschen mit anderer Hautfarbe viel schwerer. Natürlich ist das nicht nur ein polnisches Problem, denn viele Unterstützungsstrukturen aus Westeuropa weigern sich, nicht-weiße Menschen aufzunehmen.«
NBT-Teilnehmer*innen argumentieren, dass der Grund dafür, dass die Krise infolge der Invasion in der Ukraine die Krise an der nordöstlichen Grenze in den Schatten stellt, nicht nur in ihrem Ausmaß liegt, sondern auch in der psychologischen Distanz, die viele Pol*innen gegenüber den Migrant*innen empfinden, die versucht haben, über Belarus in ihr Land zu gelangen – eine Haltung, die durch die Angstmacherei von Staats- und Kapitalinteressen gefördert wird. »Der russische Einmarsch in der Ukraine ist für die polnische Gesellschaft sichtbarer, spürbarer und unkomplizierter als die Bombenangriffe im destabilisierten Syrien, Irak oder Jemen«, sagt F-. »Es ist einfacher für sie zu erkennen, dass sie Kriegsflüchtlinge sind, die Hilfe brauchen. So hat die Propaganda des polnischen Staates funktioniert.«
Während das NBT seine Arbeit an der polnisch-belarussischen Grenze fortsetzt, zeigt es die gleiche Solidarität mit den aus ihrem Land vertriebenen Menschen in der Ukraine. »Von Beginn des Krieges an waren Menschen, die mit dem No Borders Team verbunden sind, an der Grenze zur Ukraine präsent«, sagt D. »Zunächst leisteten sie unmittelbare Hilfe, z. B. bei der Grenzküche, die von Food Not Bombs-Kollektiven aus ganz Polen organisiert wurde, oder bei der Unterstützung des Transports von Menschen. Mit der Zeit begannen wir mit besser koordinierten Aktivitäten. Gemeinsam mit unseren ukrainischen Genoss*innen starteten wir Hilfstransporte von Polen in die Ukraine und den direkten Transport von Menschen, die vor dem Krieg nach Polen flüchteten.«
»Das Chaos und die Verwirrung, die diese Situation umgeben, stabilisieren sich langsam, so dass sich Möglichkeiten für organisierte Aktionen ergeben«, sagt D-. »Freund*innen aus verschiedenen Ortschaften fahren an die Grenze und helfen beim Aufteilen und Sortieren von Paketen, beim Kochen, beim Transport; wir organisieren Übergaben von Sachen und Geld. Wir arbeiten mit einer anarchistischen Gruppe zusammen, die in der Nähe von Kyjiw kämpft; wir unterstützen sie mit Hilfsgütern. Es wurde auch ein Stützpunkt eingerichtet, zu dem Menschen aus unserem Umfeld kommen können. Wir führen derzeit eine Spendenaktion für einen Lieferwagen durch, der in der Ukraine eingesetzt werden kann.«
Zu der Frage, wie der polnische Staat auf den Zustrom ukrainischer Flüchtlinge reagiert hat, sagt J-: »Es würde genügen zu sagen, dass er überhaupt nicht funktioniert. Für uns als Anarchist*innen ist dieser Satz jedoch nicht besonders aufschlussreich. Praktisch jede Hilfe für die Opfer dieses Krieges wird von unten organisiert. Millionen von Menschen widmen dafür ihre Zeit, ihre Arbeit und ihr Geld. Die Regierung hingegen beschränkt sich auf Pressekonferenzen, auf denen an diese Leistungen appeliert wird. Seit Beginn des Krieges wurde keine kohärente Politik zur Unterstützung der Flüchtlinge geschaffen. Während die polnische Regierung eine 353 Millionen Euro teure Mauer entlang der Grenze zu Belarus baut, trotz des heftigen Widerstands von Menschenrechts- und Umweltschützer*innen, sehen die Teilnehmer*innen des NBT diesen reaktiven Ansatz als Symbol für das völlige Fehlen einer tragfähigen Migrationspolitik des Landes.«
F- erklärt: »Die Aktivist*innen und Bewohner*innen des Grenzgebiets, die seit über einem halben Jahr an der polnisch-belarussischen Grenze aktiv sind, nutzen diese Zeit der sozialen Unruhe für die Ukraine auch, um zu betonen, dass alle Flüchtlinge nach Polen kommen können und hier einen Platz zum Leben oder einen sicheren Weg für ihre weitere Reise finden sollten. Unabhängig von Papieren oder Nationalität.«
Während die belarussische Regierung damit begonnen hat, inhaftierte Migrant*innen zurück nach Minsk zu transportieren, damit sie in die Länder, aus denen sie geflohen sind, zurückgeführt werden können, befinden sich immer noch Hunderte in der Grenzzone. Die fortgesetzte Arbeit von NBT zur Unterstützung der dort noch festsitzenden Migrant*innen ist nur ein Teil ihrer Mission, die Migrationspolitik in der Europäischen Union und darüber hinaus zu ändern. Sie argumentieren, dass die Öffnung der Grenzen und die Zusammenarbeit der einzige Weg ist, um uns auf das vorzubereiten, was vor uns liegt, da immer mehr Menschen durch Kriege, politische Umwälzungen, Wirtschaftskrisen und Umweltkatastrophen aus ihren Ländern vertrieben werden. Das Kollektiv in Polen ist Teil eines größeren Netzwerks; es arbeitet mit No Borders-Gruppen aus Deutschland, Frankreich, Italien, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich zusammen.
[[ https://cdn.crimethinc.com/assets/articles/2022/03/28/10.jpg Ein Foto der Demonstration in Krosno Odrzańskie am 12. Februar 2022, aufgenommen von Agata Kubis.]]
»Wir haben eine andere Situation als Gruppen außerhalb Polens«, sagt D-. »Das liegt daran, dass keine dieser Gruppen das Sperrgebiet betritt und unter so schwierigen Bedingungen arbeitet: lange Fahrten in den Wald und die Sümpfe, sowie extrem niedrige Temperaturen. Pol*innen und Litauer*innen sind gezwungen, im Sommer in einem Sperrgebiet Leben zu retten, was in diesen Ländern unter Strafe steht.«
Am 23. März wurden vier Aktivist*innen in Polen, die einer Familie an der Grenze zu Belarus humanitäre Hilfe leisteten, unter dem Verdacht verhaftet, Menschen über die Grenze zu schmuggeln.
Angesichts dieser Widrigkeiten vertritt die No Borders-Bewegung weiterhin die Idee, dass Grenzkrisen nicht durch Migrant*innen verursacht werden, sondern durch das System der geopolitischen Aufteilung in Nationalstaaten. »Zuallererst«, sagt J-, »müssen wir einfach das tun, was die No Borders-Bewegung schon seit Jahren tut – Menschen auf der Flucht in jeder Hinsicht unterstützen. Wir müssen Unterstützungsnetzwerke schaffen, sichere Häuser eröffnen, den Weg zeigen und täglich echten Widerstand gegen Grenzen leisten.«
»Paradoxerweise hat uns die Situation in der Ukraine die natürliche Nähe und Leichtigkeit vor Augen geführt, wie angesichts von Bedrohungen über Staatsgrenzen hinweg gegenseitige Hilfe geleistet wird«, sagt D-. »Die Beseitigung der Mechanismen zur Entwicklung autoritärer Strukturen ist nur einer der Faktoren, die die Öffnung der Grenzen begünstigen.« Zu den weiteren wichtigen Schritten auf dem Weg zu einer grenzenlosen Welt gehören nach Ansicht der NBT-Aktivist*innen die Entwicklung eines Plans zur langsamen Entmilitarisierung, die Stärkung pro-ökologischer Programme, die gerechte Verteilung und Umverteilung von Ressourcen, die Arbeit zur Beseitigung von Armut und Hunger, die Erziehung zu ethischen Einstellungen und der Aufbau eines Netzwerks sich selbst organisierender und selbst verwaltender lokaler Strukturen.
»Es gibt viel zu tun, aber wir haben nur unsere eigenen Grenzen zu verlieren«, sagt D-.
Appendix: Die Geschichte eines Flüchtlings
Der folgende Bericht erschien auf der Facebook-Seite des No Borders Teams am 23. Februar 2022.
Um denen eine Stimme zu geben, die die Welt nicht hören will, veröffentlichen wir die Geschichte eines Menschen, der sich entschlossen hat, ein großes Risiko einzugehen und sich auf den Weg nach Europa zu machen:
»Ich komme aus Syrien, bin 33 Jahre alt und Ingenieur. Ich habe Syrien vor etwa neun Jahren verlassen und bin in den Libanon gereist – unter anderem wegen Magenproblemen, die ich behandeln musste. Eines Tages sagte jemand zu mir:
»Wenn du nach Europa gehen willst, gibt es einen einfachen Weg. Gib mir einfach Geld, und ich gebe dir ein Ticket und ein Visum für Belarus, dann kannst du überall hingehen. Es ist ein wirklich einfacher Weg…«
Ich will nicht zurück nach Syrien, wegen des Krieges und meiner Religion. Wenn ich erzähle, was mein Glaube ist, kann ich getötet werden. Es gibt einen Zweig des Christentums in Syrien, zu dem sich nur wenige Menschen bekennen. 2018 hat die ISIS mein Dorf angegriffen und etwa 300 Menschen getötet: Kinder, Frauen und Männer.
…Und so kam es, dass ich diesem Mann 4000 Dollar gab, damit er mir ein Visum und eine Hotelreservierung besorgt. Wir hatten einen Direktflug vom Libanon nach Minsk. Als unsere achtköpfige Gruppe ankam, holte uns ein Mann ab, brachte uns in ein Hotel und sagte, dass wir uns zwei Tage lang gut ausruhen sollten.
Er sagte uns auch:
»Wenn ihr nach Europa wollt, müsst ihr 3000 Euro in Bar bezahlen. Ein Auto bringt euch zur Grenze, ihr geht ein oder zwei Kilometer zu Fuß, und auf der anderen Seite (der Grenze) wartet ein Auto, das euch hinbringt, wohin ihr wollt. Deutschland, Belgien…«
Vielleicht sind wir alle dumm, denn wir haben ihm geglaubt.
Nach zwei Tagen kam das Auto tatsächlich und brachte uns zur Grenze. Aber es waren keine zwei Kilometer, es waren etwa 30. Da wir nicht zurückgehen konnten, beschlossen wir, diese schreckliche Reise anzutreten. Wir waren etwa drei Tage lang zu Fuß unterwegs. Eine Person in der Gruppe hatte ein Telefon mit Internetanschluss. Ein Mann, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, gab uns eine Wegbeschreibung: »Geht hier … geht dort …« Als wir am Zaun in Belarus ankamen, gab es keine Möglichkeit, hindurchzugehen. Der Mann sagte, wir müssten ein Loch im Zaun finden, aber das fanden wir nicht, also krochen wir unter dem Zaun durch. Dann liefen wir etwa 20 Stunden lang durch den Wald und kamen in eine Stadt. Der Mann, der uns navigierte, sagte immer wieder: »Ihr müsst 5 Kilometer hierher laufen, 6 Kilometer dorthin, wieder 5 Kilometer, 12 Kilometer…« und so weiter und so fort.
Als wir am letzten Punkt ankamen, war es ein anderer Tag. Dort wurden wir von der polnischen Polizei aufgegriffen. Sie gaben uns Wasser und sagten nichts weiter, als dass wir nach Belarus zurückkehren müssten. Der Wachmann brachte uns zur Grenze. Später, auf der anderen Seite, wurden wir von einem belarussischen Soldaten aufgegriffen. Wir sagten, wir wollten zurück nach Minsk, in den Irak, nach Syrien oder sonst wohin. Der Soldat lachte und sagte:
»Ihr geht nicht zurück nach Minsk. Ihr werdet eher sterben. Ihr habt zwei Möglichkeiten: Ihr könnt hier sterben oder versuchen, nach Polen zu gehen.«
Und sie brachten uns, acht Personen, zu einer anderen Gruppe von Menschen, einer Gruppe von etwa 200 Personen, in ein Lager, aber mit nichts zum Leben. Sie gaben uns weder Wasser noch Essen. Sie sagten: »Ihr seid keine Menschen. Ihr seid Tiere.«
Wir blieben dort fünf Tage lang. Wir baten jeden Tag um Wasser. Wir haben es nicht bekommen. Ein Soldat kam und sagte, wenn wir Wasser bräuchten, könne er es uns für 100 Dollar pro Flasche [sic!] geben. Das Wasser war nicht trinkbar, es war grün und kam aus einer Pfütze. Aber ohne Wasser kann man nicht leben… also habe ich ihn jeden Tag bezahlt. Eines Tages stahlen die Soldaten die Powerbank meines Freundes, eine Schachtel Zigaretten und das Telefon des anderen. Sie benahmen sich wie die Mafia.
Ich weiß nicht, warum sie uns als Propaganda benutzen. Sie sammelten uns jede Nacht ein und fuhren zur polnischen Grenze. Sie (die belarussischen »Sicherheitskräfte«) versteckten sich unter den Menschen und trugen normale Zivilkleidung. Sie nahmen Steine und warfen sie in Richtung der polnischen Seite, wobei sie gleichzeitig »Yalla« riefen, um die anderen glauben zu machen, dass die »Araber« Steine warfen. Das waren Provokationen. Als wir es nicht über den polnischen Zaun schafften, schlugen sie uns und sagten:
»Ihr müsst gehen!«
Nach fünf Tagen wurden wir abgeholt und an einen anderen Ort gebracht. Ein belarussischer Soldat schnitt den Zaun durch, so dass wir nach Polen gehen konnten. Wir liefen etwa fünf Tage ohne Wasser und Essen. Wir schliefen im Schnee, wir waren sehr müde. Schließlich beschlossen meine Kolleg*innen und ich, auf die Hauptstraße zu gehen, weil es uns nicht mehr interessierte, was passierte, wir waren so erschöpft…
Nach einer Weile hielt eine Frau im Auto an. Wir sagten einfach zu ihr: »Bitte helfen Sie uns.«
Sie nahm uns mit, aber nach fünfzehn Minuten hielt die Polizei das Auto am Kontrollpunkt an. Ich fiel auf den Boden und sagte:
»Bitte bringen Sie mich in ein Krankenhaus.«
Sie brachten mich zu einem Ort, an dem ein kurdischer Arzt arbeitete, ein sehr guter Mann. Er erzählte uns von den Organisationen, die helfen, und gab uns die Papiere, die wir unterschreiben mussten.
Wir können nicht zurück nach Belarus gehen. Wenn sie uns in Polen töten wollen, nur zu, es ist uns egal. Aber wir wollen nicht zurück nach Belarus. Schließlich kamen Leute aus eurer Gruppe ins Krankenhaus und beschützten uns. Und wir danken Gott für diese Hilfe. Nach zwei Tagen im Krankenhaus brachten uns die Wachen zur Polizeiwache, um die Dokumente vorzulegen, und brachten mich auf einen offenen Platz. Dies ist meine Geschichte. Ich habe sehr, sehr schlimme Dinge gesehen. Ich sah einen Mann neben mir im Wald sterben, und ich konnte nichts tun…
Wenn ich zwischen dem Leben und Europa wählen müsste, würde ich das Leben wählen.
Ich habe Glück, dass ich Menschen wie euch getroffen habe, die wissen, was Menschlichkeit ist.