zuerst erschienen: https://lundi.am/5-decembre-et-apres-on-va-faire-simple
Übersetzung: Top B3rlin
5. Dezember und danach: Wir werden es einfach machen
Alles ist sehr einfach. Das ist der Geist der Gelbwesten. Macron sagt, man solle ihn holen; wir kommen ihn im Elysée [Residenz des Präsidenten (1)] holen. Der Staat presst uns Geld auf den Straßen ab; wir zerschlagen ihm die Radarfallen. Man hat es satt, sich zu Hause im Kreis zu drehen; man besetzt die Kreisverkehre. BFM [Business FM: privater, französischer Wirtschaftssender] lügt; BFM fängt sich eine. Man will sichtbar werden; man zieht sich die Neonweste an. Man will sich erneut in der Masse auflösen; man zieht sie aus. Die Gelbwesten sind die Rückkehr des Geistes der Einfachheit in die Politik, das Ende des falschen Scheins, die Auflösung des Zynismus.
Wie man in den Streik hinein geht, kommt man wieder heraus. Wer zögerlich in den Streik geht, ohne allzu sehr daran zu glauben oder auf das Nachlassen der Bewegung spekuliert, wie es die Zentralen [der Gewerkschaften] immer machen, auch wenn sie so tun, als würden sie dazu aufrufen, der kommt geschlagen heraus. Wer auf schmetternde Weise hinein geht, hat einigen Chancen, den Gegner zu zerschmettern. Der kommende Streik – das spürt man bereits in der Spannung, die er auslöst, bevor er überhaupt angefangen hat – enthält ein magnetisches Element. Seit Monaten hört er nicht auf, mehr Leute an sich zu ziehen. Es brodelt in den Köpfen, in den Körpern, in den Firmen. Überall zerbricht etwas und alle zerbrechen. Denn die Sachen sind einfach, letztlich: diese Gesellschaft ist ein Zug, der beschleunigend auf einen Abgrund zu rast. Je mehr die Sommer zur Gluthitze werden, desto mehr Erdöl verbrennt man; je mehr Insekten aussterben, desto mehr Pestizide benutzt man; je mehr die Ozeane in einem Meer aus Plaste sterben, desto mehr produziert man davon; je mehr die Unternehmenswelt toxisch wird, desto mehr verallgemeinern sich ihre schlimmsten Management-Techniken; je mehr Leute wie Hunde krepieren, desto mehr sind die Straßen gepflastert mit Werbung für Luxusmarken; je mehr Augen die Polizei ausschlägt, desto mehr stellt sie sich als Opfer dar. Am Ende dieses Prozesses des Umsturzes aller Wahrheiten gibt es die Trumps, Bolsonaros, Putins, die boshaften Genies der Verkehrung von allem, die Hampelmänner des Kohle-Faschismus [carbo-fascisme: Begriffsprägung des Historikers Jean-Baptiste Fressoz, der damit die ökologiefeindliche Neue Rechte beschreibt].
Man muss den Zug also anhalten. Der Streik ist die Notbremse. Den Zug anhalten, nicht um ihn nach drei vagen Zugeständnissen der Regierung wieder anzufahren. Den Zug anhalten, um auszusteigen, um wieder festen Boden unter den Fuß zu bekommen; wir werden dann schon sehen, ob wir die Schienen, die nicht drüber reichen, dieses Mal unter dem Abgrund wieder aufbauen. Das ist es, worüber wir in den Generalversammlungen zu diskutieren haben – über das Weiterbestehen der Welt, nicht über das Voranschreiten der Verhandlungen. In jedem Beruf, in jedem Sektor, in der Medizin, der Agrikultur, der Bildung oder im Baugewerbe hat eine Menge von Leuten in den letzten Jahren Techniken und Wissen erfunden, um ein materielles Leben auf ganz anderen Grundlagen möglich zu machen. Der Anstieg der Experimente entspricht dem universellen Befund des Desasters. Die Unterbrechung des geregelten Weltablaufs bedeutet nur für diejenigen Panik und Mangel, denen es niemals an etwas gemangelt hat.
Im April 1970, einige Tage vor dem ersten Tag der Erde, erklärte der Chef von Coca-Cola: „Die Jugend dieses Landes ist sich dessen bewusst, was auf dem Spiel steht, sie ist empört über unsere scheinbare Bewusstlosigkeit. Massen von Studenten engagieren sich und demonstrieren. Ich gratuliere unserer Jugend für ihr Bewusstsein und ihre Scharfsicht. Sie haben uns allen einen Dienst erwiesen, indem sie die Alarmglocke läuteten.“ [Coca-Cola startete 1970 eine große Werbekampagne für die wiederverwendbare Glasflasche.] Das war vor 50 Jahren. Heute ist die Tochter von Édouard Philippe [Premierminister Frankreichs] Sympathisantin von Extinction Rebellion. Es ist, unter anderem, durch solche Diskurse, dass die Kapitalisten von Jahr zu Jahr Zeit gewonnen haben und damit Geld; am Ende haben sie ein halbes Jahrhundert gewonnen und wir haben es verloren. Ein halbes Jahrhundert Aussetzung des Urteils, das das System schon gegen sich selbst ausgesprochen hat. Irgendwann muss es jemand ausführen. Jemand muss beginnen. Warum nicht wir, in Frankreich, in diesem Dezembermonat 2019.
Den Streik vergelbwesten heißt, mit den Tricksereien aufhören. Der Streik geht von dem geplanten Raubüberfall auf die Renten aus; er hört dort nicht auf. Wie wird deine Rente aussehen, wenn dein Bankkonto voll ist, aber die Erde brennt? Wo wirst du fischen gehen, wenn es keine Fische mehr gibt? Wir sprechen von einer Reform, die sich über zwanzig-dreißig Jahre erstreckt: genau die Zeit, die es braucht, damit diese Welt unbewohnbar geworden ist. „Für die Zukunft unserer Kinder“, sagten die Gelbwesten von Anfang an. Dieser Streik ist keine Stillstandszeit, nach der man wieder in die Tretmühle des grauen Alltags tritt, er ist der Beginn einer neuen Zeitlichkeit oder nichts. Er ist nicht ein Mittel in Hinblick darauf, einen Rückzug des Gegners zu erreichen, sondern die Entscheidung, sich ihm zu entledigen und die Freude, sich in der Aktion oder um eine Feuertonne wiederzufinden. Überall in der Welt drücken die Aufstände in diesem Moment diese endlich bewusst gewordene Selbstverständlichkeit aus: die Regierungen sind das Problem und nicht die Besitzer der Lösungen. Seitdem man uns mit Slogans auf die Nerven geht wie „die guten Gesten und guten Praktiken“, um den Planeten zu retten, sind alle vernünftigen Leute zu dem gleichen Schluss gekommen: die guten Gesten, das ist Bayer-Monsanto abbrennen, das ist Total ausrauben, das ist Kontrolle über Tanklager erlangen, das ist Radio France besetzen und sich die Antenne aneignen, das ist die Betonindustrie enteignen und die Depositenkasse ausrauben. Die guten Praktiken, das ist die Fernsehstationen belagern, das ist die Gebäude des industriellen Fischfangs versenken, das ist La Défense [Wirtschaftsviertel in Paris, das als Europas größte Bürostadt gilt] ghettoisieren, das ist alles blockieren, die Logistik des Gegners paralysieren und das wieder in die Hand nehmen, was es verdient. Das ist die einzige Lösung, es gibt keine andere: weder der Elektroroller, noch das Wasserstoffauto, noch das Geo-Engineering, noch das grüne Wachstum und die Bienen-Drohnen werden die Katastrophe abmildern. Es wird keinen Übergang geben. Es wird eine Revolution geben oder nichts. Die ganze Führungsriege muss zuerst zum Teufel gejagt werden, wenn wir „Lösungen“ finden wollen. Die Maschine muss zerbrochen werden, wenn wir beginnen wollen, die Welt zu reparieren. Wir sind in einer unerträglichen Lebensweise eingesperrt. Wir schauen uns dabei zu, wie wir in einer Weise leben, von der wir wissen, dass sie absurd ist. Wir leben in einer selbstmörderischen Weise in einer Welt, die nicht die unsere ist. Niemals hat man uns nach irgendeinem der greifbaren Aspekte des Lebens gefragt, das wir führen: weder für die Atomkraftwerke, noch für die Shoppingcenter, noch für die Hochhauskomplexe, noch für die Verbürgerlichung der Stadtzentren, noch für die Massenüberwachung, noch für die BAC [Brigade anti-criminalité: äußerst brutale frz. Zivilpolizei] und die Gummigeschosswerfer, noch für die Errichtung des Lohnsystems, noch für seine Zerstörung durch Uber und Co., noch übrigens für die kommenden 5G. Wir sind als Geiseln genommen in ihrem Desaster, in ihrem Alptraum, aus dem wir gerade aufwachen.
Je weiter die Sachen gehen, desto mehr vertieft sich ein Schisma zwischen zwei Realitäten. Die Realität der Regierenden, der Medien, der fanatisierten Macronisten, der zufriedenen Metropolenbewohner; und die der „Leute“, unsere gelebte Realität. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Wir werden uns nicht verrecken lassen für eure schönen Augen, für eure schönen Geschichten, für eure schönen Häuser. Wir werden die Maschine blockieren und die Kontrolle Punkt für Punkt zurück erlangen. Wir sind 60 Millionen und wir werden uns nicht am Hunger sterben lassen. Eure Tage sind gezählt; eure Gründe und Verdienste wurden gewogen und für zu leicht befunden; gegenwärtig wollen wir, dass ihr verschwindet. Seit 50 Jahren denken wir positiv; wir haben das Resultat gesehen. Ihr habt euch auf unserem Rücken als Produzenten und dann Konsumenten bereichert. Und ihr habt alles versaut. Schließlich haben wir verstanden, dass die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde kein unglücklicher und ungewollter Nebeneffekt eurer Herrschaft ist, sondern ein Teil eures Programms. Um Wasser in Flaschen verkaufen zu können, muss das aus dem Wasserhahn zuerst aufhören, trinkbar zu sein. Um die reine Luft wertvoll zu machen, muss man sie knapp machen. Seitdem die Umweltschützer sagen, dass ein anderer Weg dringend ist, dass man das Paradigma wechseln muss, dass wir gegen eine Wand rennen, muss man die Tatsache zur Kenntnis nehmen: dieser Streik ist die Gelegenheit, die sich 25 Jahre lang nicht gezeigt hat, den notwendig anderen Weg einzuschlagen. Dieser Streik ist das Mittel, der Misere und der Verwüstung ein Ende zu machen. Er ist die einzige haltbare Entschleunigung. Allein ein Land in totalem Stillstand hat einige Chancen, eine CO2-Bilanz zu präsentieren, die mit den Empfehlungen des Weltklimarates [Intergovernmental Panel on Climate Change] vereinbar ist. Die einzige Stadt, die wieder ein bisschen lebenswert geworden ist, ist die, in der die Flaneure wieder auf den Gehwegen sprießen, weil die U-Bahn gestoppt ist. Die einzige akzeptable Karre ist die, wo man sich zu sechst stapelt, weil man zu viele Tramper mitgenommen hat.
Es gibt keine Rückkehr zum Normalen, weil die Normalität das Problem ist.
(1) Da der Text im Original nicht gegendert ist, wurde in der Übersetzung auch darauf verzichtet. Anm. d. Übers.