Für eine solidarische, selbstkritische und intersektionale Praxis!

Kritische Gedanken zu social media-Outings und anderen Vorfällen in Bremen

Wir haben uns als Antira United gegründet, um unseren seit Jahren an verschiedenen Stellen geführten Kampf gegen rassistische Polizeigewalt, gegen die Entrechtung von Refugees innerhalb und außerhalb der Lager, gegen Kapitalismus und strukturellen Rassismus, einen neuen gemeinsamen Ort zu geben. Mit unseren unterschiedlichen Erfahrungen von der Straße und aus kollektiven Diskussionen wollen wir in Bremen eine starke, solidarische, intersektionale Kraft gegen den rassistischen Normalzustand und für eine Gesellschaft der vielen Stimmen und diversen Perspektiven aufbauen.

Wir sind schockiert über die „Outcalling“-Vorfälle der letzten Wochen: Gesichter, Namen und Gruppenzugehörigkeiten von linken Genoss:innen wurden von einer Einzelperson* auf verschiedenen social media-Kanälen gepostet. Die diffamierenden Posts enthalten schwere Vorwürfe ohne jegliche Nachvollziehbarkeit. Sie wurden dennoch innerhalb von wenigen Stunden von zahlreichen Gruppen/Einzelpersonen geteilt und unhinterfragt weiterverbreitet. Das ist ein wirkliches Problem. Deshalb wollen wir nun inhaltlich zu diesen „Outcallings“ Stellung nehmen.

Wir verstehen uns als emanzipatorische Linke. Wir kämpfen gegen ein kapitalistisches System, das über Leichen geht, gegen seine bereitwilligen Schreibtischtäter:innen und ganz grundsätzlich gegen die sexistischen und rassistischen Strukturen, die die gesamte Gesellschaft durchziehen. Wir stehen als linke Bewegung nicht außerhalb dieser gewaltvollen Machtverhältnisse. Wir sind nicht frei von diskriminierendem Denken und Handeln. Immer wieder zeigt sich, dass sexistisches, rassistisches, homo-/queerfeindliches, klassistisches und anderes diskriminierendes Verhalten sowie Übergriffe auch in unseren Strukturen vorkommen. So unerträglich das ist – es ist die Realität. Deshalb muss die Auseinandersetzung mit rassistischen, klassistischen, patriarchalen, queerfeindlichen Verhaltensweisen und Übergriffen innerhalb unserer Strukturen ein wichtiger Teil unseres Kampfes sein.

Daher stellt sich für uns permanent die Frage, wie wir ernsthaft weiße und patriarchale Strukturen aufbrechen, wie wir uns selbst und unsere Gruppenzusammenhänge dazu bringen, die verinnerlichten rassistischen, klassistischen und sexistischen Mindsets zu reflektieren und unser Denken und Handeln zu verändern. Wie wir Übergriffe erkennen, Betroffene schützen und unterstützen, wie wir das Schweigen brechen, um die nötigen Veränderungen voranzutreiben. Und zwar ohne dabei auf die bürgerliche Justiz zu setzen und ohne einer ‚Lust am Strafen‘ zu folgen. Dazu gibt es seit langem viele Überlegungen, hauptsächlich aus feministischen/BIPoC-Zusammenhängen wie transformative justice oder community accountability.

Eines ist für uns jedoch klar: Das Veröffentlichen von Fotos, Namen und Gruppenzugehörigkeiten von ‚beschuldigten‘ Personen auf social media zählt für uns definitiv nicht zu einem emanzipatorischen Umgang – im Gegenteil: wir halten so ein Vorgehen für gefährlich, performativ und gewaltvoll!

Solche social media „Outcallings“ spielen direkt den wirklichen politischen Gegner:innen in die Hände: dem Staat, der Polizei, dem Verfassungsschutz, den Nazis. Solche „Outcallings“ legen linke Strukturen offen, sie verletzen und gefährden die mit Namen und Foto veröffentlichten Personen konkret und erheblich.

Veröffentlichungen dieser Art halten wir zudem auch für unwirksam und kontraproduktiv im Kampf gegen Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Klassismus innerhalb der linken Bewegung selbst. Sie erzeugen eine Atmosphäre der Angst und der blinden Gefolgschaft und damit eine Kultur, in der es vor allem  darum geht, keine Fehler machen zu dürfen, vermeintlich „unangreifbar“ zu sein, auf der „richtigen Seite“ zu stehen – anstatt offen zu sein für echtes Lernen, für Reflexion, für kollektiven Austausch und konstruktive Kritik.

„Outcallings“ auf social media bringen uns kein Stück weiter – sie fallen sogar noch hinter die jämmerlichen Standards der bürgerlichen Justiz zurück, die immerhin noch beide Seiten anhört, bevor sie (ver)urteilt und die die Anonymität der beschuldigten Personen wenigstens noch wahrt.

Das heißt nicht, dass es in manchen Situationen nicht auch Sinn machen kann, eine konkrete Person mit ihrer Täterschaft öffentlich zu outen, um Betroffene zu schützen – aber das sollte niemals die Entscheidung einer Einzelperson sein, sondern das Ergebnis eines reflektierten, kollektiven Prozesses von Gruppen. Und selbstverständlich sollte es weder das erste noch das einzige Mittel sein.

Solche „Outcallings“ mit der Veröffentlichung von Namen und Gesichtern, mit massiven Anschuldigungen ohne inhaltlichen Bezug sowie der Aneinanderreihungen von „hippen“ rassismuskritischen Schlagworten, die im Grunde nur von bestimmten Bildungsbürger:innen verstanden werden, sind für uns letztendlich ein Ausdruck einer individualisierenden, neoliberalen Praxis, die (schnelle) reißerische social media-Posts über die kollektiven Lernprozesse und Auseinandersetzungen stellt oder – schlimmer noch – von diesen gar keine Vorstellung mehr hat.

Dieser Umgang basiert auch auf dem Konzept der white fragility und ist in Bremen zu einer gängigen Methode geworden: manche weiß geprägten, sich als links bezeichnenden Gruppen, sind innerhalb von kürzester Zeit und ohne jegliche Vorinformationen dazu bereit, linke Strukturen offen zu legen und einzelne Aktivist*innen bloßzustellen, nur um sich selbst vor strukturellen Vorwürfen zu schützen. Dieses Verhalten zeigt uns im Grunde, wie viele Gruppen nicht verstanden haben, was eine solidarisch-intersektionale linke Praxis bedeutet und wie viel Mut diese Praxis uns abverlangt. Diesen unreflektierten Umgang möchten wir an dieser Stelle entmaskieren und inshallah einige Gruppen zu Selbstreflektion anregen – denn never forget: ein Ally ist kein Esel, der blind folgt & never forget: we as a BIPoC activists are not uniform and for sure – also we have assholes among us!

Wir nehmen wahr, dass in Bremen eine solche Machtpolitik der Diffamierung, des Bloßstellens, des Angst-Einjagens um sich greift. Viele Menschen – meist PoCs, meist Frauen*, meist Refugees – sehen sich seit vielen Monaten von bestimmten Gruppen und Einzelpersonen solch persönlich diskreditierenden Angriffen ausgesetzt. Vor den Augen und Ohren von hunderten oder tausenden „Follower:innen“. Das ist psychisch gewaltvolles Handeln, das die Betroffenen verunsichern, einschüchtern und zum Schweigen bringen soll. Yani, wir haben genug von einer solchen anti-emanzipatorischen Machtpolitik, die auf Spaltung angelegt ist, die bedingungslose Gefolgschaft fordert und die bei Nicht-(Be)Folgen unmittelbar mit Sanktionierung droht – und das auch noch gegen Marginalisierte und nie gegen all die zahlreichen Schreibtischtäter:innen! Nach oben zu zeigen, aber nach unten zu treten – das ist nicht stabil!

Wir fordern alle Gruppen/Einzelpersonen dazu auf, sich klar dagegen zu positionieren. Wir erwarten von allen emanzipatorischen Linken, solche „Outcallings“ nicht zu liken, nicht zu teilen, nicht weiterzuverbreiten. Wir erwarten, dass Kritik konstruktiv, inhaltlich begründet und direkt gegenüber den Gruppen/Einzelpersonen geäußert wird – und nicht über social media!

Als Antira United setzen wir auf eine solidarische, selbstkritische und intersektionale Praxis, auf den Kampf auf der Straße, auf den Kampf um die Köpfe und gegen die gewaltvollen rassistischen und patriarchalen Verhältnisse – als diejenigen und mit denjenigen, die zentral davon betroffen sind.

Power to the people !

1 thought on “Für eine solidarische, selbstkritische und intersektionale Praxis!

  1. Hallo „Antira United“,

    vieles ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen, weil die „Outings“ auf die ihr euch bezieht uns nicht bekannt sind. So stoßen uns v. A. drei Punkte übel auf und wir fordern euch auf dazu Stellung zu nehmen:

    1. „Solche social media „Outcallings“ spielen direkt den wirklichen politischen Gegner:innen in die Hände: dem Staat, der Polizei, dem Verfassungsschutz, den Nazis.“
    -> Somit sind für Antira United Vergewaltiger*innen und sexuell Übergiffige keine „wirklichen politischen Gegner:innen“???!!! Ernsthaft? Wollt ihr damit die Vorwürfe, die gegen Menschen aus euren Reihen im Raum stehen, kleiner machen?

    2. „Outcallings“ auf social media bringen uns kein Stück weiter – sie fallen sogar noch hinter die jämmerlichen Standards der bürgerlichen Justiz zurück, die immerhin noch beide Seiten anhört, bevor sie (ver)urteilt und die die Anonymität der beschuldigten Personen wenigstens noch wahrt.
    Das heißt nicht, dass es in manchen Situationen nicht auch Sinn machen kann, eine konkrete Person mit ihrer Täterschaft öffentlich zu outen, um Betroffene zu schützen – aber das sollte niemals die Entscheidung einer Einzelperson sein, sondern das Ergebnis eines reflektierten, kollektiven Prozesses von Gruppen. Und selbstverständlich sollte es weder das erste noch das einzige Mittel sein.“
    -> Antira United erteilt hier der Definitionsmacht der betroffenen Person eine Absage?! Generell oder nur wenn es um zu treffende Konsequenzen geht (wie hier das öffentliche outen)? Warum? Weil jetzt offenbar mal eure eigenen Leute beschuldigt sind?

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