Eine Antwort auf den Text „Gegen die Verwirrung in der (radikalen) Linken angesichts von Corona“.
Lieber älterer Anarcho aus Bremen,
vielen Dank für den Text, den Du geschrieben hast. Ich denke es ist wichtig, genau über die angesprochenen Fragen auszutauschen. Denn vieles, was Du ansprichst, spricht auch bei mir ein Unbehagen an, was mich die ganze Zeit der Pandemie schon begleitet:
Die einzige Form, wie ein Staat auf solch ein Problem, wie der Pandemie, reagieren kann, ist mehr oder minder von oben herab und damit autoritär. Dies kann dadurch passieren, dass einfach mit Anweisungen und Gewalt vom Staat agiert wird, oder wie in unserem Fall, indem mit viel Öffentlichkeitsarbeit für Maßnahmen geworben wird und dann der Staat als zentrales Hilfsinstrument gegen die Pandemie in den Raum gestellt wird.
Dass die Verhältnisse des globalisierten Kapitalismus zentral bei der Entstehung und Verbreitung der Pandemie waren wird dann ausgelassen.
Gleichzeitig werden massive Einschränkungen persönlicher Freiheiten verordnet, die gesundheitspolitischer Sicht zum Teil nicht sinnvoll waren und dazu noch die Möglichkeiten von politischem Protest gegen die staatliche Politik, die in allen Bereichen weiter läuft, unterbinden. Ein Beispiel waren die Durchsetzungen von Demoverboten gegen sogar Einzelpersonen im Wendland oder Hamburg.
Auch haben insbesondere die unter den Maßnahmen zu leiden, die vorher schon in prekären Verhältnissen waren. Wir könnten sagen: Die Krise zeigt uns, an welchen Stellen global unser Gesellschaftssystem krankt.
So sind viele engagierte Linke damit beschäftigt, auf die Probleme, welche die Isolation für nicht privilegierte Gesellschaftsgruppen mit sich bringt, aufmerksam zu machen. Das sehe ich anders als Du: Es ist in der Linken Bewegung nicht egal, wer wegen der Maßnahmen heraus fällt. Es wird sich vielmehr an vielen Stellen darum bemüht solidarisch die Folgen aufzufangen. Ein Beispiel waren die großen und schnell organisierten Solidaritätslisten, über die versucht wurde Menschen, die besonders betroffen sein könnten zu unterstützen.
Richtig ist, wenn ein Staat solche Maßnahmen verordnet, dann sind erst alle betroffen. Manche Menschen sind dann so betroffen, dass sie ihre Lebensgrundlage verlieren, für andere bedeutet dies, dass sie plötzlich den vorher schon latenten Gewaltverhältnissen zu Hause endgültig ausgeliefert sind. Es ist einem Staat kaum anders möglich zu agieren, weshalb es ja auch eine Staatskritik gibt.
Aber, und dies ist der Punkt, der mir wirklich in Deinem Text fehlt: Was wäre die Alternative gewesen? Sicher, in der Hongkong Grippe, sind scheinbar mehr Menschen gestorben. Aber damals gab es auch keine Isolationsmaßnahmen. Global können wir beobachten, dass dort, wo die Maßnahmen zu spät ergriffen wurden, die Gesundheitssysteme zusammengebrochen sind und eine sehr große Anzahl von Menschen gestorben sind. Die Statistiken sind bisher nur unzureichend, weil bspw. in Italien und Frankreich lange Zeit nur die Menschen erfasst wurden, die in den Krankenhäusern starben. Allerdings waren diese zum Teil so überlastet, dass sie keine Menschen mehr aufnehmen konnten. Später wurden dann noch Menschen erfasst, die auch in Pflegeeinrichtungen starben. Dies alles passierte, weil die Isolation in Italien und Frankreich zu spät kam, aber sie wurde auch verordnet. Hätten wir, hätten das Frankreich und Italien einfach weiter laufen lassen sollen?
Noch schlimmer trifft es natürlich noch ärmere Regionen der Welt. Wer von der Hand in den Mund leben muss, kann sich nicht Wochen lang einschließen. Dem entsprechend wird die Krise viele Regionen noch sehr hart Treffen. Aber dies ist kein Grund, nicht dort, wo es geht, zu versuchen, die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Situationen, wie in Guayaquil, wo Menschen am Ende tot auf der Straße lagen, gilt es überall zu vermeiden.
In manchen Regionen ist dieses Eindämmen durch die Reduktion des Kontakts inzwischen so weit gelungen, dass nur noch vereinzelt Fälle auftauchen. Wenn es sonst keine medizinische Form der Behandlung einzelner gibt, frage ich mich, warum das nicht die beste Form des Umgang sein soll?
Klar ist, nicht alle Maßnahmen sind sinnvoll. Welche Maßnahmen wie wirkungsvoll sind, wird sich am Ende vermutlich erst sehr viel später herausstellen. Daher werfe ich auch niemandem vor auch darin Fehleinschätzungen zu machen. Zentral ist aber, dass es tatsächlich geht zu verfolgen, welche Dinge problematisch sind und welche nicht. Dass von staatlicher Seite dies über Zahlen verfolgt wird, ist nachvollziehbar und nicht unsinnig.
Daher meine Frage: Wie hätten den sonst auf die Pandemie reagiert werden können/sollen? Gab es eine wirkliche Alternative in dem bestehenden Zeitrahmen, in dem eine Woche warten einen massiven Unterschied gemacht hat, wie wir in Groß-Britanien sehen können?
Es ist sinnvoll auf die Straße zu gehen um die Folgen anzuprangern, die ihre Ursachen in den rassistischen, patriarchialen und kapitalistischen Verhältnissen schon vor der Krise haben. Aber die Forderungen müssen dann andere sein – und dies macht einen sehr großen Unterschied in der Ausrichtung der Demonstration.
Und damit bin ich bei meinem zweiten Kritikpunkt: Wenn ich demonstriere muss ich mir auch darüber Gedanken machen, wie das, was ich sage auch verstanden und weiterverarbeitet wird. Denn sonst wird meine Äußerung eine reine Selbstbespaßung in der ich mich vielleicht gut fühle, weil ich das „Richtige“ gesagt habe, aber es keine oder gar die falsche Wirkung hat. In dem Fall der Covid-19 „Widerstandsdemos“ kann ja noch so sehr eine andere Intention vorhanden gewesen sein. Die Frage ist aber, wer das wie aufgreift, mit trägt und welche Botschaft am Ende dann noch bleibt. Inzwischen ist die Bremer Demo nur noch im Zusammenhang mit den Demos in Stuttgart, Hamburg, München und Gera zu betrachten. Die Leute dir dort hin kommen, kommen dort auch wegen dieses Zusammenhangs hin.
Die getragenen Schilder zeigen dies sehr deutlich. In so einem Fall, wird eine linke Beteiligung immer nur noch zum Feigenblatt für eine sehr andere Veranstaltung. Dies muss sehr deutlich werden.
Und ja, es gibt eine auch von Linken getragene Kritik an der Bill Gates Stiftung. Diese ist gut und wichtig. Darauf geht auch der „Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte“ ein. Das hat aber nichts mit einer vermuteten Allmacht dieser Stiftung zu tun, der wir ausgeliefert wären.
Ich halte es daher für wichtig, einer Demonstration, die ich für gefährlich halte, weil sie Inhalte verbreitet, die Verschwörungstheorien Vorschub leistet und im Zusammenhang mit den sehr Rechts offenen Demos in anderen Städten steht, entgegenzutreten. Zumindest um ihr einen Spiegel vorzuhalten.
Deshalb fahre ich jetzt dort hin – ups schon so spät.
so hatte sich der autor des textes, auf den dieser text antwortet selbst genannt.
https://endofroad.blackblogs.org/archive/10013 – vorletzter Absatz
Vielen Dank für den konstruktiven Diskussionsbeitrag, bei dem mich lediglich die Anrede ‚ älterer Anarcho‘ deutlich stört – welcher Gedanke steckt hinter der Anspielung auf das Alter der Person? Spielt das Alter eine Rolle? Und wenn ja, welche?