Wir befinden uns mitten in einer neuen Welle von Covid-19-Infektionen und mit ihr zeichnen sich erneute massive Einschränkungen von Bewegungs- und Versammlungsfreiheit ab. Die Folgen der Kontaktsperren für linksradikale Politik und Strukturen haben wir im Frühjahr am eigenen Leib erleben dürfen. Damit sich das nicht wiederholt, möchten wir zu einem reflektierten, kritischen und daraus folgernd auch widerständigen Umgang mit den verordneten Maßnahmen in Bezug auf politische Aktivitäten aufrufen!
Wir alle haben in den letzten Monaten erlebt, wie Zentren nicht aufgemacht haben aus der begründeten Angst vor der Pandemie. Organisierungsprozesse sind abgebrochen, weil wir uns nicht mehr getroffen haben. Themen wie zum Beispiel Überwachung und Kontrolle oder die Privatisierung des Gesundheitssystems, die uns als Linke schon jahrelang beschäftigen, wurden im Zuge der Pandemie in den Mainstreammedien diskutiert. Doch haben wir es versäumt, diese Themen kontinuierlich zu besetzen und auf die Straße zu bringen in einer Zeit, in der sie teilweise anschlussfähig gewesen wären. Die großen Mobilisierungen zu #BlackLivesMatter und #leavenoonebehind zeigen, dass es möglich gewesen wäre. Statt dessen gelang es verstrahlten Aluhüten mit weiten Überscheidungen in rechtsextreme Milieus, Themen wie Grundrechtseinschränkungen zu besetzen.
Dies war sicherlich dem Umstand geschuldet, dass wir alle von der Pandemie überrumpelt wurden, kein Konzept für den Umgang mit der Bedrohung hatten, keine Möglichkeit, die Situation richtig einzuschätzen und keine Erfahrungswerte mit der Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen. Das Bedürfnis, sich solidarisch zu verhalten, traf auf die Unkenntnis, wie das denn konkret umsetzbar wäre. Die Definition von Solidarität erfuhr eine orwellsche Transformation: Solidarisch war, wer NICHT ins Altenheim ging.
Statt dessen wurde aus der eigenen Verunsicherung heraus von vielen der staatlich-verordnete “verantwortliche Umgang” mit der Situation übernommen, ohne zu hinterfragen, woher eigentlich der Inhalt dieser speziellen “Verantwortung” kam. Wir sehen im unhinterfragten Übernehmen von “Verantwortung” die Gefahr, dass dies zu Positionen wie die der Grünen führt, die ein Endlager für hochradioaktiven Müll in Deutschland fordern aus Verantwortung für “deutschen” Atommüll – und dabei der Atomindustrie voll auf den Leim gehen. Das Übernehmen dieser staatlich verordneten Verhaltensregeln führt zudem dazu, dass alle, die davon abweichen, als “Gefährder*innen” wahrgenommen werden. Dieser Spaltpilz zerlegt soziale Kämpfe und lähmt emanzipatorischen Widerstand sehr viel gründlicher, als es Repressionsorgane je vermögen.
Wir sehen es als verständlich und berechtigt an, dass durch eine unbekannte Bedrohungssituation Ängste entstehen und teilen das Bedürfnis, sich und andere nicht zu gefährden. Was wir allerdings in diesen Monaten der „Schockstarre“ oder des Sich-Zurückziehens in digitale Räume vermisst haben, ist eine kollektive Auseinandersetzung um die Situation und die Frage, wie eine Linke mit dieser Situation umsichtig umgehen kann, um handlungsfähig zu bleiben und gleichzeitig den Staat und Überwachungskonzerne mit ihren autoritären Vorstößen deutlich zu kritisieren.
Wir erleben, wie Trittbrettfahrer*innen der Pandemie die Angst vor Covid-19 nutzen, um ihre autoritären Agenden durchzusetzen. Das Feld dieser Krisengewinnler*innen ist weit. Corona-App, Telemedizin, Telebildung, bargeldloses Bezahlen, pandemieresistente Smart Cities bewohnt von digital voneinander isolierten Individuen, die zwischenmenschliche Kontakte als auszumerzende Bedrohung darstellen und durch plattformvermittelte Dienste ersetzen wollen. Die Pandemie ist für die Apologeten dieser zerstörerischen Neuzusammensetzung der Gesellschaft wie frische Morgenluft, die die bislang renitente Widerständigkeit wegweht. Corona ist der digitalisierende Virus, der Entwicklungen, die ansonsten Jahre gebraucht hätten, binnen Wochen durchpeitscht.
Die Disziplinierung und Diskriminierung der “gefährlichen Klassen” wird verschärft. Ob es Obdachlose sind, denen Bußgelder aufgedrückt werden, weil sie sich während der Ausgangssperre nicht in ihrer Wohnung aufgehalten haben, oder die unverhältnismäßig hohe Anzahl von Bescheiden wegen Verstößen gegen migrantische Jugendliche. In Deutschland wurden ganze Wohnblöcke eingezäunt und deren Bewohner*innen gefangen genommen mit glasklaren rassistischen und klassistischen Argumentationen, in vielen Ländern passiert das Gleiche, nur dass teilweise gleich ganze Stadtteile abgeriegelt werden. Die Armen sind die gefährliche Klasse, nicht nur wegen potenzieller revolutionärer Ambitionen, sondern weil Armut die Ausbreitung der Krankheit befördert.
Derweilen weitet sich der Einsatz der Bundeswehr im Inneren aus, nicht nur, dass Uniformierte an immer mehr Stellen auftauchen, sondern auch ideologisch. Gesundheitsämter geraten unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie den Einsatz der Truppen ablehnen.
Der autoritäre Umbau der Gesellschaft beschleunigt sich. Politiker*innen vergießen Krokodilstränen, wenn sie von „den Sachzwängen“ zu Maßnahmen „genötigt“ werden – um unter der Hand durch verschärfte Infektionsgesetzgebungen den „Notstand“ festzuschreiben. Ein „Notstand“, der auch immer dann in Stellung gebracht werden wird, wenn es darum geht, soziale Kämpfe und Widerstand zu ersticken.
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Unsere Position
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Wir wollen uns weder mit den Konformist*innen gemein machen, die in angstvoller Kopflosigkeit jede Maßnahme der Regierung gutheißen und mit einer nachbetenden „Verantwortlichkeit“ die unsinnigsten Verregelungen schlucken, die nun in einer autoritären Anmaßung per Dekret erlassen werden. Warum sollten wir wochentags dicht gedrängt in mittlerweile wieder vollen Zügen zur Arbeit fahren, aber „einsichtig“ auf Demos verzichten, insbesondere auf die, die mehr sind als choreografiertes Widerstandstheater?
Wir wollen uns auch nicht mit Corona-Leugner*innen gemein machen, die in ihrem völlig unangemessenen Wunsch nach Vereinfachung die Pandemie für eine ersonnene Weltverschwörung erklären und sich im Protest gegen die vermeintliche Weltherrschaft von Bill Gates auch noch mit Nazis verbünden.
Ein Spagat, der gelingen kann, wenn wir fremdbestimmte “Verantwortung” zurückweisen. Wir müssen uns jetzt Gedanken darüber machen, wie wir mit den pandemiebedingten Einschränkungen umgehen, um nicht nur ein weiteres Einbrechen unserer Kämpfe und Organisierungen zu verhindern, sondern auch, um handlungsfähig und kämpferisch zu bleiben. Den entwendeten und verdrehten Begriff der Solidarität müssen wir uns zurückholen und mit unseren Inhalten füllen.
Wir rufen euch auf, die Nutzung der Krise zur Durchsetzung einer „neuen Normalität“ der verstetigten „sozialen Distanz“ von einer klaren linken Position aus anzugreifen!
Je länger wir in einer erschrocken-beobachtenden zweiten Reihe verharren, desto stabiler können
autoritäre Krisenakteure ein solches „post-pandemisches“ Normal verankern. Denn allen dürfte klar
sein: Ein Zurück (nach dem Ausnahmezustand) zu „alter Normalität“ der Vor-Corona-Zeit – die schon damals etwas war, wogegen es sich zu kämpfen lohnte – wird es nicht geben.
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Was können wir tun?
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Diese neue Corona-Welle wird von Seiten der Regierung allein schon aus ökonomischen Gründen nicht mit einem umfassenden Shutdown beantwortet, sondern wird mit Rückgriff auf das Infektionsschutzgesetz zu (massiven) regionalen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit führen. Freier Zugang und unbeschränkte Teilhabe wird unter Umständen denen vorbehalten sein, die „Immunität“, PCR-Test oder zumindest Corona-App vorweisen können.
Auf dem Land gab es in der ersten Welle genügend Möglichkeiten, sich ungestört von Corona-Bullen in großen Gruppen zu treffen. Historisch gab es darüber hinaus die Methode „konspirativer Spaziergänge“, in denen in wechselnden Konstellationen im Freien Zweiergespräche geführt wurden. Erinnern wir uns außerdem an die Kämpfe, die wir zu Zeiten der Castortransporte ins Wendland geführt haben: Mitten im Winter, tagelang draußen im Gelände, trotz widriger Umstände hat das Begreifen der Notwendigkeit der Kämpfe alle Unwegbarkeiten überwindbar und den Widerstand möglich gemacht.
Wir sollten auch in den Städten nach geeigneten Räumlichkeiten suchen, die eine Vollversammlung auch im Winter möglich machen. Gibt es zum Beispiel Situationen, in denen es uns möglich und richtig erscheint, uns solche Räume zugänglich machen, auch dann, wenn die für sie „Verantwortlichen“ denken, sie nicht freigeben zu können? Zumindest können wir das Gespräch suchen, um über Räume zu verhandeln, wir können unsere eigenen Konzepte entwickeln, um Räume so zu nutzen, dass sie politische Aktivitäten zulassen, ohne sich Gesundheitsrisiken auszusetzen. Wir können uns wetterfest anziehen und auch mal Treffen im Freien durchführen. Wir brauchen Konzepte im Umgang mit Kontaktbeschränkungen und Ausgehverboten (wie es sie z.B. in Frankreich gab und wieder gibt), alleine schon deshalb, weil das die Punkte sind, an denen die Repression den Hebel ansetzt.
Zwei Aspekte halten wir für besonders wichtig:
// Räume //
Konzerte, Partys, Küfas und Vorträge sind neben unseren Plenas und Vollversammlungen wichtige Orte des Austausches und der (informellen) Organisierung. Während sich Plenas zur Not noch virtualisieren lassen, können wir diesen informellen Austausch und das soziale Miteinander nicht in den virtuellen Raum verlagern. Was aber auch heißt: Wir brauchen im Winter Räume, um uns zu sehen, auszutauschen und zu organisieren. Verschlüsselte virtuelle Treffen sehen wir maximal als Möglichkeit der Verabredung bzw. des organisatorischen Austausches für Delegierte. Das heißt auch, dass wir dafür stetig in Konfrontation gehen werden müssen. Sei es beispielsweise bei stillen Besetzungen von Häusern, die durch ihre Größe ermöglichen, uns mit dem nötigen Abstand auch drinnen zu treffen oder aber auch bei der Auseinandersetzung mit den zum Teil staatlich co-finanzierten linken Zentren, die aus Angst vor staatlicher Repression ihre Räume nicht öffnen.
Der Winter wird die Zeit sein, in der wir die im Frühjahr durch unsere Nachbarschaftshilfen gewonnenen Beziehungen nutzen können und müssen, um unsere Räume vor Denunziation zu schützen, in der Hoffnung, dass die Nachbar*innen nicht direkt die Bullen rufen. Und der Winter wird auch der Punkt sein, wo wir wieder mehr konspiratives Verhalten üben müssen, um unsere Räumlichkeiten und Strukturen nicht zu gefährden.
// Demos und Aktionen //
Ende August wird die Demo gegen die rassistischen Morde in Hanau verboten. So kurzfristig, dass eine gerichtliche Auseinandersetzung nicht mehr möglich ist, auch die Infektionszahlen stiegen schon einige Tage an. In Hanau wurde nicht an den Zahlen gedreht, um unsere Demo zu verhindern, es wurde an der Interpretation der Zahlen gedreht. Das Verbot hätte schon Tage früher kommen können und wäre dann gerichtlich überprüfbar gewesen oder es hätte ein Alternativplan entwickelt werden können.
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Soziale Kämpfe lassen sich nicht virtualisieren
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Schon jetzt merken wir die Auswirkungen der Distanzierung zwischen uns. Onlinedemos, Hashtagaktionen und ähnliches sind genau wie der virtualisierte 1. Mai des DGB kein Kampf, sondern PR und eine Verächtlichmachung realer sozialer Kämpfe. Daher freuen wir uns über den Mut der sozialen Kampfbaustelle Anfang September in Leipzig, dieses verlorene Terrain zurück erkämpfen zu wollen.
Nicht, dass es vor 2020 einen besseren Stand der Organisierung gab, aber jetzt gilt es auch noch obendrein, die Organisierung im nicht-virtuellen Raum aufrechtzuerhalten bzw. wieder in Gang zu setzen. Sprich, es müssen deren Grundvoraussetzungen geschaffen werden!
Lebendige soziale Widerständigkeit ist mit Social Distancing nicht vereinbar, sie muss die Methoden sozialer Distanzierung samt ihrer disziplinierenden und isolierenden Wirkung offensiv angreifen!
Gesellschaftliche Veränderungen werden immer noch auf der Straße erkämpft!
@Einhörnchen: Schau doch mal in Diverge für eine fundierte Auseinandersetzung mit der „freiwilligen“ Corona-App
https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2020/06/DIVERGE-small.pdf
Naja, es werden immer mehr Forderungen laut (in HB z. B. von der CDU), die App verpflichtend zu machen. Wer die App nutzt, erhält dann Privilegien, andere müssen im wahrsten Sinne des Wortes draußen bleiben. Eine hervorragende Möglichkeit für Bevölkerungslenkung also. Gesellschaftliche Teilhabe gesteuert via App. Dann die Unmengen an Daten, die anfallen und vielleicht irgendwann Begehrlichkeiten wecken. Wäre ja nicht das erste Mal, dass eitwas eingerichtet und dann später für ganz andere Zwecke genutzt wird. Siehe Mautstationen, die ursprünglich „niemals“ zur allgemeinen Kennzeichen-Erfassung dienen sollten. Und nun, hoppla, sollen sie genau dafür genutzt werden … Der CCC interessiert sich in erster Linie für Datenschutz und iist ansonsten doch eher technik-affin a la „toll, was Technik alles kann“. Da werden etwaige gesellschaftspolitische Spätfolgen gerne mal ausgeblendet.
Welche Belege gibt es denn dafür, dass die Corona-Warn-App ein „autoritär hochwirksames Werkzeug“ ist? Irgendwie scheint das an CCC und Co vorbeigegangen zu sein.