Eine Einordnung der Belarus-Proteste (in Bremen)

Für alle Leute, die sich schonmal gefragt haben was genau es eigentlich mit den Protesten rund um Belarus zu tun hat, wie diese einzuordnen sind und was es mit (nationalen) Symboliken wie der weiß-rot-weißen Flagge auf sich hat, haben wir uns ein paar Gedanken gemacht.

Diese möchten wir gerne mit euch Teilen und euch ermuntern mit den Belarus*innen vor Ort ins Gespräch zu kommen.
Viel Spaß beim Lesen und Diskutieren!

In den letzten Wochen fanden in Bremen regelmäßig Kundgebungen zur aktuellen Situation in Belarus statt. Da viele Menschen in Bremen und der BRD nur wenig über Belarus wissen und somit die Proteste im Land und die hiesige Solidarität mit ihnen nur schwer einordnen können, sollen im folgenden einige Fragen geklärt und Anregungen zur Beteiligung gegeben werden.

Wie ist die Situation?

Seit 26 Jahren regiert der Autokrat Aliaksandr Lukaschenka in Belarus. In Folge der Präsidentschaftswahlen in 2006 und 2010 sowie nach Einführung einer Arbeitslosensteuer in 2017 gab es bereits größere Proteste, die niedergeschlagen wurden. Zur Präsidentschaftswahl am 09. August 2020 vereinte sich die Opposition erstmals und stellte sich hinter Svetlana Tikanoswkaja. Diese übernahm die Kandidatur ihres Mannes Sergej Tikanowskij nach dessen Festnahme wegen eines schwerwiegenden Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung (er hat eine nicht genehmigte Kundgebung durchgeführt). Unterstützung erfuhr sie von Veronika Zepkalo, deren Mann ebenfalls kandidierte und flüchten musste, und von Maria Kalesnikowa, der Wahlkampfmanagerin des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babaryka. Die drei Frauen wurden ein Sinnbild für den belarusischen Freiheitskampf.
Weiter nachteilig für das diktatorische Regime Lukaschenkas wirkte sich die schlechte wirtschaftliche Lage und ein Missmanagement in der Coronakrise aus. Dies schwächte seine Popularität. Es bildeten sich lange Schlangen zur Unterschriftensammlung für oppositionelle Kandidat*innen und viele Menschen folgten dem Aufruf erst am 09.08.2020 wählen zu gehen (in Belarus gibt es eine Vorwahlperiode), um Wahlfälschung zu erschweren. Wider jeder Einschätzung beanspruchte Lukaschenka jedoch den Wahlsieg mit 80% für sich. Tikanovskaja erhielt demnach nur ca. 10% der Stimmen. Es gibt eindeutige Hinweise auf Wahlbetrug, die auch von internationalen Wahlbeobachter*innen bestätigt wurden. Zudem machten viele Belarus*innen Fotos von ihren Wahlzetteln und stellten diese online.
Der offensichtliche Wahlbetrug veranlasste die belarusische Zivilbevölkerung zu Protesten. In den folgenden drei Nächten fanden Straßenproteste von tausenden Menschen statt. Die Polizei, der OMON (Sondereinheit der Polizei) und auch das Militär gingen gewaltsam gegen diese meist friedlichen Proteste vor. Mit Gummigeschossen und Blendgranaten zielten sie direkt auf Demonstrierende und schlugen Menschen mit Schlagstöcken brutal nieder. In den kommenden Wochen gab es mehr als 13.000 Verhaftungen. Freigelassene berichten von Demütigung und Folter. Es gibt mehrere Tote und Vermisste.
An die nächtlichen Proteste schlossen sich seither tägliche Proteste und Streiks an. Jeden Samstag gibt es einen Frauenprotest, sonntags einen allgemeinen Protest und montags Treffen sich Pensionär*innen zum Protest gegen das Regime. Die Pressefreiheit wurde mittlerweile fast vollständig eingeschränkt. Tut.by, eines der wichtigsten unabhängigen Nachrichtenportale (u.a. vom Spiegel regelmäßig zitiert), verlor seinen Medienstatus und alle dort beschäftigten Journalist*innen damit ihre Akkreditierung. Weiterhin wurde allen ausländischen Medien die Akkreditierung entzogen. Gehen sie dennoch ihrer Arbeit nach, können sie eine Anklage wegen der Teilnahme an unerlaubten Protesten befürchten und erhalten dafür momentan meist ca. 14 Tage Haft.
Zum 25.10. hat Svetlana Tikanowskaja ein Ultimatum gestellt. Darin heißt es, dass Aliaksandr Lukaschenka bis zu diesem Tag seinen Rücktritt bekannt geben muss, dass er die Gewalt auf den Straßen beenden muss und alle politischen Gefangenen freigelassen werden müssen. Sollten diese Forderungen nicht erfüllt werden, wird mit einem landesweiten Streik gedroht. Lukaschenka ist auf die Forderungen nicht eingegangen. Welche Wirkungen der Streik hat, bleibt abzuwarten.

Wer protestiert und worum geht es den Protestierenden?

Die Proteste gehen von der Zivilbevölkerung aus. Es ist davon auszugehen, dass ebenso wie Anarchist*innen auch Rechte und Nationalist*innen an den Protesten beteiligt sind. Die meisten Menschen würden sich wahrscheinlich überhaupt nicht als in irgendeiner Weise politisch bezeichnen. Es scheint zudem innerhalb der Proteste keine Rolle zu spielen welcher Gruppierung eine Person angehört, da dies nicht öffentlich gemacht wird. Die einzigen Symbole der Protestbewegung sind die weiß-rot-weiße Flagge, weiße Armbänder (stehen für Frieden und Freiheit) und die Victory-Faust-Herz Symbolik der drei Oppositionskandidatinnen . Symbole einzelner Gruppierungen findet man selten. Insbesondere Anarchist*innen nehmen mit großen Transpis an den Protesten teil. Außerdem gab es eine Aktion von LGBTIQ.
Die Protestbewegung ist dezentral organisiert und funktioniert insbesondere über eine Vernetzung mittels Telegram. Es gibt keine Führungsperson und damit auch keine Partei, Vereinigung oder politische Ausrichtung an die die Proteste gebunden sind. Vielmehr steht das Streben nach einem freien Belarus und dem Abtritt von Lukaschenka im Mittelpunkt. Auch gibt es keine geopolitische Ausrichtung zu Russland oder Europa. Die Proteste sind insbesondere von jungen Menschen initiiert, ziehen aber aufgrund der starken Gewalt durch die Staatsorgane mittlerweile Menschen aus allen Altersklassen mit. Bemerkenswert ist auch der Streik, der sich mittlerweile auf für das Regime elementare Bereiche, wie das Atomkraftwerk und den staatlichen Fernsehsender ausgeweitet hat. Eine besondere Rolle spielen zudem die Frauen. In einem sehr stark von traditionellen und binären Rollenbildern geprägten Land wie Belarus, nehmen sie eine zentrale Rolle bei den Protesten ein. Dadurch entsteht eine Politisierung und ein Empowerment zugunsten des Feminismus.

Wie ist die Flagge einzuordnen?

Die weiß-rot-weiße Flagge wurde zwar in der Vergangenheit bereits als nationalistisches Symbol verwendet, steht in den heutigen Protesten aber vielmehr für ein freies und eigenständiges, also weder von Russland noch der EU dominiertes Land. Sie wird als Antwort auf die von Lukaschenka eingeführte rot-grüne Flagge und damit als Symbol für das Ende seiner Diktatur genutzt.

Welche Rolle spielt die BRD?

Die BRD spielt im Kontext der EU eine Rolle im Bezug auf Sanktionen gegen das Lukaschenka-Regime. Zudem wurde ein Statement gesetzt, als die Wahl von Lukaschenka nicht anerkannt wurde. Deutschland trägt jedoch mehr Verantwortung, da es aktiv zur gewaltsamen Niederschlagung der Proteste beigetragen hat. 2008-2010 wurde die belarusische Polizei vom deutschen Bundeskriminalamt ausgebildet. Beobachter*innen kamen nach Deutschland um sich anzugucken, wie Proteste gegen Castor-Transporte aufgelöst werden. Es gab damit eine explizite Ausbildung der Polizei in der Niederschlagung von Protesten. Eine Ausbildung, die vielleicht in den derzeitigen Protesten genutzt wird, um friedlich Demonstrierenden und zivilem Ungehorsam gewaltvoll entgegen zu treten. Zudem wurde damals Material zur Überwachung an den belarusischen Staat geliefert. Hierbei handelte es sich laut dem Innenministerium um Software und Kameras. Inwiefern diese noch heute Verwendung finden ist unklar. Des Weiteren gibt es laut Greenpeace Belege dafür, dass zumindest 2015 noch Waffen der deutschen Firmen Heckler & Koch und Sig Sauer von belarusischen Polizist*innen verwendet wurden. Seit 2011 besteht ein Waffenembargo.
Aktuell befindet sich der Regierungsflieger von Aliaksandr Lukaschenka bei Lufthansa Technik in Hamburg zur Wartung. Diese soll, trotz Protesten u.a. von Mitarbeitenden, planmäßig durchgeführt werden. Deutschland ist zudem der viertgrößte Handelspartner von Belarus. Neben chemischen und pharmazeutischen Produkten werden insbesondere auch Maschinen und Autos nach Belarus geliefert.

Welche Bedeutung haben die Proteste in Bremen und der BRD?

Die Proteste von Belarus*innen in Deutschland sind insbesondere ein Symbol der Solidarität mit den Menschen, die trotz Repressalien momentan in Belarus auf die Straße gehen und für ihre Freiheit kämpfen. Dadurch findet auch bei den hiesigen Belarus*innen eine Politisierung statt. Die meisten von ihnen sind selbst in Belarus groß geworden und haben keine Erfahrungen mit Demonstrationen oder ähnlichem. Eine konkrete politische Ausrichtung fehlt zumeist oder wird durch einzelne aktive Menschen geprägt. Der Fokus liegt auf dem Sturz des Lukaschenka-Regimes, der Beendigung von Gewalt und der Durchführung von freien Wahlen. Durch die belarusische Flagge, Gedichte, Lieder und Slogans wird ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihren Verwandten und Freund*innen in Belarus erzeugt und empowert.

Eine politische Einschätzung

Die Forderungen nach freien und fairen Wahlen entsprechen aus linker Sicht vielleicht nicht der Utopie nach der wir streben, aber sie scheinen als Fortschritt gegenüber einer Diktatur, die politische Meinungen fast gänzlich unterdrückt. Es wäre eine Chance für einen freien Austausch und die politische Emanzipation der Menschen in Belarus. Die Protestbewegung in Belarus hat sich bewusst dazu entschieden keine weitergehende Positionierung vorzunehmen um nicht (wie die Opposition in der Vergangenheit) gespalten zu werden. Das halten wir für legitim. Natürlich birgt das auch die Gefahr, dass es anschließend im Zuge einer Annäherung an die EU zu einer Neolibralisierung kommt. Um so wichtiger finden wir es jetzt mit der Bewegung in Kontakt zu gehen und über die Chancen und Gefahren zu sprechen. Ihr Anliegen sich frei politisch betätigen zu wollen halten wir für richtig und wichtig für weitere emanzipatorische Prozesse. Gerade in einem Land, welches von einer stark binären und patriarchalen Kultur geprägt ist, birgt die explizite Bewegung und Organisierung der Frauen ein großes Potenzial für weitergehende Veränderung. Daher sind insbesondere auch feministische Perspektiven wichtig, um die Frauen in Belarus in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen. Insgesamt ermöglicht die Bewegung im Moment auch anarchistischen Gruppen offen und offensiv aufzutreten. All das finden wir unterstützenswert.
Klar ist auch das Risiko: Auch nationalistische Gruppen beteiligen sich an den Protesten. Insgesamt besteht ein anderer Umgang mit Nationalismus, als wir ihn uns wünschen würden. Zwar steht hier ein Zusammengehörigkeitsgefühl und nicht eine territoriale oder herkunftsmäßige Abgrenzung im Vordergrund, aber Nationalismus bedeutet immer auch Ausgrenzung. Wie die Entwicklung nach einer Beendigung der Diktatur aussieht, hängt stark von den Diskussionen der Bewegung ab und vielleicht auch den Anregungen, die von außen eingebracht werden.

Was kann getan werden?

Zum Einen gibt es eine ganze Liste an Dingen, die von Belarus*innen an uns herangetragen wurden (s.u.). Außerdem gibt es regelmäßige Aktionen mit Videobotschaften der Solidarität. Zum Anderen ist es aber auch wichtig die Menschen hier vor Ort in ihrem politischen Empowerment zu unterstützen. Die Breite der Proteste in Belarus und ihre Organisation jenseits von einem Parteiensystem muss auch hier gestärkt werden. Die Protestierenden brauchen Unterstützung von erfahrenen Menschen und Support in der Organisation der Proteste. Zudem freuen sich die Menschen über Interesse und Austausch mit anderen Personen. Insbesondere Fragen und die Bereitschaft zu einer offenen Diskussion werden positiv wahrgenommen. Recht häufig sind unter den deutschen Belarus*innen eine Skepsis gegenüber der linken Szene und der Antifa zu hören. Die derzeitigen Proteste bieten daher eine gute Möglichkeit um Vorurteile abzubauen und in den Austausch zu gehen. Es ist wichtig die Menschen in ihrer Politisierung nicht alleine und das Feld nicht nur den deutschen Parteien zu überlassen. Vielmehr braucht es konstruktive Skepsis. Linke Perspektiven zu Wahlen, Demokratie und Freiheit dürfen in diesem Kontext nicht fehlen. Lasst uns gemeinsam kämpfen gegen die Diktatur und Polizeigewalt und für Selbstorganisation, Empowerment und die Politisierung der Zivilbevölkerung.

Empfehlenswerte Literatur und Links:

  • Interview mit Anarchist*innen: crimethinc.com
  • Anarchistische Gruppe und ihre Berichte über die Proteste: pramen.io/en
  • Reportage über die Gewalt gegenüber Protestierenden mit englischen Untertiteln: youtube.com

Unterstützung von Anarchist*innen und Antifaschist*innen in Belarus: abc-belarus.org

Fundraiser für Menschen die wegen staatlichen Repressionen ihren Job verloren haben: https://www.facebook.com/donate/759400044849707/1762474543893205

5 thoughts on “Eine Einordnung der Belarus-Proteste (in Bremen)

  1. @ToMaTo
    Ich finde du hast recht mit deiner Kritik gegenüber nationaler Symbolik.
    Im Fall von Belarus finde ich es gleichzeitig aber auch schwierig sich deswegen nicht mit den Menschen zu connecten, denn da scheint gerade eine ziemliche Politisierung von vorher unpolitischen Menschen stattzufinden, sodass es doch gerade jetzt wichtig wäre auch mit einer anti-nationalen Kritik an die Leute ranzutreten und in den Austausch zu gehen oder?

    Was die Flagge im Nationalsozialismus angeht, wird das in dem verlinkten Interview mit Anarchist*innen erwähnt, aber (wie ich finde) leider auch nicht gut aufgelöst.

  2. Das ist ja alles schön und gut…
    Aber woher weiß mensch, wann in Bremen Aktionen stattfinden?

  3. @Galina: Es geht bestimmt darum, sich mit den Protestierenden hier vor Ort, d.h. in Bremen und Oldenburg zu vernetzen.

    @endofroad: Auch, wenn ihr sehr schoen darlegt, warum dort die Nationalflaggen (o.Ae.) zu sehen sind, widerstrebt es mir dennoch, mich mit Leuten zu connecten, die sich positiv auf solch einen National-Schwachsinn beziehen.

    Und dasz die weisz-rot-weisze Flagge auch schon mal im Nationalsozialismus genutzt wurde, verschweigt ihr ziemlich auffaellig. Die Flagge wurde u.a. bis 1945 von Nazi-Kollaborateueren im belarussischen Freiwilligenheer und der Waffen-SS verwendet.
    Angesichts eurer anscheinenden Naehe zum Thema Belarus, würde ich euch bei der Unterschlagung der Bedeutung der Flagge eine Absicht unterstellen.

  4. Wo kommt man denn mit den Menschen ins Gespräch? Das steht im Posting nicht drinne. Gibt es irgendwo Veranstaltungen? Theaterstücke?

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