kopiert aus der taz
Mahnmal für Opfer rechter Gewalt
Ein neues Mahnmal in Bremen verbindet auf bislang einzigartige Weise Kunst im öffentlichen Raum mit der virtuellen Realität.
Virtual Reality inklusive: das Mahnmal am Bremer Marwa-El-Sherbini-PlatzWo soll man das Maßband anlegen, um die Größe eines Mahnmals herauszufinden? Ob etwa das Reiterstandbild eines einzelnen Kaisers wirklich größer ist als ein Stolperstein, der auf Millionen weiterer Ermordeter verweist, ist schwer zu sagen. Bei Bremens jüngstem Mahnmal ist die Sache noch komplizierter: An den Wänden eines Trafohäuschen sind die gesprühten Porträts von zwölf Menschen zu sehen, die seit der Wiedervereinigung von Neonazis ermordet wurden. Ein paar stilisierte Gesichter in grellen Farben, die aber auf bislang einzigartige Weise verknüpft sind mit der virtuellen Realität.
Hinter jedem Porträt verbirgt sich nämlich ein animierter Raum. Sie lassen sich über mit dem Smartphone gescannte Codes erreichen und durch Virtual-Reality-Brillen besichtigen, die das Ortsamt verleiht.
Das klingt ein bisschen umständlich und ist auch so gewollt. Denn obwohl die Programmierer Wert auf den niedrigschwelligen Zugang gelegt haben, was die verwendeten Geräte betrifft, verlangt dieser Gedenkort seinen Betrachter*innen doch einen ersten Schritt ab. Ein kurzes Innehalten auf dem Weg zur Arbeit oder in die Kneipe: Das geht hier nicht. Oder jedenfalls bleibt es wortwörtlich an der Oberfläche dieser gemalten Gesichter.
Es lohnt, diese Annäherung an die Aktualität deutscher Verbrechen im Detail nachzuvollziehen. Das beginnt schon bei der Adresse des Mahnmals, die es vergangene Woche noch gar nicht gab. Seit der Einweihung des Denkmals heißt die kleine Fläche im Bremer Szeneviertel Marwa-El-Sherbini-Platz, benannt nach der 2009 im Dresdener Landgericht ermordeten ägyptischen Sportlerin und Wissenschaftlerin. Man hat gerade ihr diesen Platz gewidmet, weil sie ein paar Jahre in Bremen gelebt hat – doch natürlich ist sie auch Stellvertreterin für alle rund 200 bekannten Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung.
Das Gedenken hat an diesem Ort hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte – noch ein Umweg, der wichtig ist: An der Wand des Pavillons sind insgesamt zwölf Menschen zu sehen. Einer davon ist Andreas Oertel, der in seiner Wohnung von Neonazis überfallen und tagelang bis in den Tod gequält wurde. Die Täter haben sich mit dem Mord gebrüstet, weil ihr Opfer eine geistige Behinderung hatte, homosexuell war und weil Gerüchte kursierten, er habe ein Kind missbraucht.
Ein weiteres Opfer ist der Shoah-Überlebende Alfred Salomon, der 1992 im Seniorenheim von einem ehemaligen Oberführer der „Organisation Todt“ geschlagen wurde und seinen Verletzungen erlag. Dass die Opfer nichts gemein haben, außer dass eben Nazis ihren Tod wollten, war der Ausgangspunkt des Kunstprojekts „Köfte Kosher“, das die Künstlerin Elianna Renner hier schon vor einigen Jahren mit jüdischen und muslimischen Jugendlichen realisiert hat. Schon dieses Miteinander war eine kleine Sensation, geholfen hat das der Arbeit aber nur kurz: Wenig später waren die Bilder mit Tags übersprüht, Gerümpel und Müll vor die Wände gestellt.
Das neue Mahnmal ist mit seinem technischen Aufwand auch eine Reaktion auf dieses Untergehen im Stadtraum. Es begann zwar als Restauration, ist aber schnell darüber hinausgewachsen. Und wieder sind Jugendliche für die zentralen Inhalte verantwortlich. Elianna Renner konnte Schüler*innen der Bremer Wilhelm-Wagenfeld-Schule gewinnen, deren Lehrer Christian Meier-Kahrweg das Mahnmal zum Gegenstand eines Designprojektes gemacht hat. Und wieder folgen Annäherungen: Die Jugendlichen haben über mehrere Monate zunächst die Biographien der Opfer recherchiert – soweit das möglich war – und sich im zweiten Schritt dann künstlerisch mit ihren Ergebnissen auseinandergesetzt.
Dass die angehenden Mediengestalter*innen (noch) keine Profis sind, ist klar. Dass sie aber auch inhaltlich keine geschichtswissenschaftliche oder erinnerungstheoretische Ausbildung haben, erweist sich überraschenderweise als echter Gewinn für diese Arbeit. Denn auch wenn die Jugendlichen sich im Schulprojekt intensiv eingearbeitet haben, bleiben ihre unterschiedlichen Zugänge hochgradig intuitiv und spiegeln authentisch die Erfahrung von jungen Erwachsenen, die den offenen Naziterror der ersten Wiedervereinigungsjahre nicht bewusst miterlebt haben.
Wer heute mit der VR-Brille auf dem Kopf vor dem Mahnmal steht, findet in diesen zwölf Räumen darum zwölf Positionen wieder, zwischen denen tatsächlich auch im übertragenen Sinne Welten liegen. Da ist die fotorealistische Rekonstruktion des Gerichtssaals, in dem Marwa El-Sherbini tödlich verletzt wurde – eine deshalb beklemmende Erfahrung, weil der Raum so vertraut ist, so bürokratisch belanglos scheint. Und weil man ihn aus dem Fernsehen kennt.
Ganz anders gestaltet ist der Zugang zum Leben Alfred Salomons. Eine animierte Filmsequenz zeigt Blumen, die aus einem Konzertflügel wachsen. Salomon liebte Musik, haben die Jugendlichen erfahren, und das ist nun Kern der Erinnerung an ihn. Andere Bilder zeigen eine animierte Taxifahrt oder radikal abstrahiert schwarze Balken, die einen umschließen.
Hermetische Räume
Dies ist keine Ausstellung, wie man sie von engagierten Schülergruppen gewohnt ist, kein beliebiges So-oder-eben-anders zum gemeinsamen Thema. Und das liegt auch am technischen Rahmen: Die Räume sind hermetisch, die Brille blendet sowohl den Bremer Platz als auch die virtuellen Nachbarräume vollständig aus, was eine eindringliche Erfahrung auch für eine ans Virtuelle längst gewöhnte Generation schafft.
Ein ganzes Museum scheint sich da zu entfalten statt einer zusammengeklatschten Gruppenausstellung. Nur sortiert dieser architekturlose Komplex eben keine Epochen, sondern tatsächlich zwölf individuelle Zugänge aus einer Generation, einer sehr jungen noch dazu, die in Kunst und Geschichte sonst kaum vorkommt.
Animiert und programmiert haben die Jugendlichen übrigens nicht selbst. Das waren Profis, die sonst in Industrie und Forschung beschäftigt sind. Und das ist wichtig, wo doch nichts älter wirkt als das Modernste von gestern – diese Arbeit hier ist tatsächlich State of the Art. Dass das auch noch eine Weile so bleiben wird, liegt auch an der Bescheidenheit dieser Technik: keine interaktiven Spielereien, keine technischen Experimente, wo sie nicht unmittelbar nötig sind, um ihren Zweck zu erfüllen.
Daten im Internet
Die Daten selbst liegen im Internet, dem anderen öffentlichen Raum, und lassen sich von überall abrufen. Wirklich neu am virtuellen Gedenken von Köfte Kosher ist, dass es mit dem Gedenkpavillon am Marwa-El-Sherbini-Platz über einen Anker im Stadtraum verfügt.
Es ist fast sicher, dass dieser Ansatz Schule machen wird. Im Kleinen versuchen sich etwa Museen an der virtuellen Kontextualisierung ihrer Exponate, oder schaffen sie gar komplett neu: Knapp zwei Monate vor Köfte Kosher hat etwa das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte Benno Elkans verschollenes „Mahnmal für die Toten des Krieges“ virtuell rekonstruiert.
Dass aber die genuin virtuelle Kunst im öffentlichen Raum loslegt als politisches Zeichen gegen rechte Gewalt von heute, ist weit mehr als eine Randnotiz. Sondern gerade in Zeiten des allgemeinen Rechtsrucks ausnahmsweise einmal eine gute Nachricht.
Quelle: taz.de