kopiert von taz.de
Der Fall Lindenstraße zeigt: Bremen hat sich noch lange nicht aus dem rassistischen Denken des Kolonialismus gelöst. Wenn das Land so weitermacht, wird es mit der versprochenen Aufarbeitung kaum hinterherkommen. Anmerkungen zu einem zukünftigen postkolonialen Erinnerungskonzept aus aktuellem Anlass
Bremen hat sich einem kritisch-reflektierten Umgang mit der kolonialen Vergangenheit verpflichtet. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteur*innen und Institutionen ebenso wie die legitimatorische Basis der kolonialen Praxen aufzuarbeiten. Eine erste Gesprächsrunde mit zahlreichen Gruppen und Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft hatte 2016 zum Ergebnis, „dass das bloße Erinnern an vergangene Ereignisse nicht eine schnell abzuarbeitende und damit abzuschließende Aufgabe ist, sondern ein kontinuierlicher Prozess in der Gegenwart mit dem Ziel, Rassismus abzubauen“. Nun zeigt ein Blick auf die jüngere Geschichte Bremens und die Ereignisse rings um die Erstaufnahmeeinrichtung in der Lindenstraße in Bremen-Vegesack, dass es auch lange nach dem Ende der geschichtswissenschaftlich bezeichneten Phase des Kolonialismus staatliche Praxen gab und gibt, die nur im Kontext von Rassismus zu verstehen sind. Diese – Handeln und Nicht-Handeln gleichermaßen – sind immer begleitet von Diskursen, die sie ermöglichen und legitimieren.
Am 7. Januar 2005 starb Laye Alama Condé an den Folgen der Brechmittelfolter in Polizeigewahrsam, die bis dahin über 13 Jahren lang in Bremen gegen schwarze Menschen angewendet worden war, die des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz bezichtigt wurden. Die „weiß“-bürgerlich dominierte Stadtgesellschaft war bereit, im vollen Wissen der Gefahren dieser Methode den Tod von schwarzen Menschen billigend in Kauf zu nehmen, um ihr Verständnis und ihr System von Recht und Ordnung durchzusetzen. – Es ist kein Fall bekannt, in dem Brechmittelfolter gegen „weiße“ Menschen angewandt worden wäre.
In der Gottlieb-Daimler-Straße wurden von 2016 bis 2018 junge Geflüchtete untergebracht, denen das Jugendamt unterstellt hatte, falsche Altersangaben gemacht zu haben. In kleinen Gruppen wurden die jungen Menschen (überwiegend aus Ländern des afrikanischen Kontinents migriert) zur medizinischen Altersfestsetzung nach Münster verbracht, wo ihre Körper von „weißen“ Medizinern inspiziert, vermessen und ihnen ein Alter zugewiesen wurde. Dies erinnert fatal an kolonialrassistische Vermessungsmedizin. Diejenigen, die Widerspruch gegen das Ergebnis der wissenschaftlich nicht validierbaren Altersfestsetzung einlegten, wurden monatelang am Rande der Stadt in Leichtbauzelten unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht.
Diskursiv begleitet und legitimiert wurde diese Praxis unter anderem mit dem Verweis auf das Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Das Vorgehen war freilich nicht alternativlos: So wäre es auch denkbar gewesen, den Jugendlichen zu glauben, oder aber entsprechend dem 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung anzuerkennen, dass der Prozess des Erwachsenwerdens mit Erreichen des 18. Lebensjahres nicht abgeschlossen ist. Damit hätten die im Jugendhilferecht verankerten Hilfen für junge Volljährige (§41 SGB VIII) angewendet werden können. Es wäre also möglich gewesen, im Sinne der jungen Menschen zu handeln, die oftmals aus Ländern migriert sind, die nach wie vor unter den Folgen des Kolonialismus leiden.
Jüngstes Vor-Corona-Beispiel für rassistische Praxen, die in einem Ermöglichungsraum aus Einstellungen, Diskursen und Verantwortungsdiffusion entstehen, ist die Umverteilung eines unbegleiteten Minderjährigen aus Gambia in Handschellen und Boxershorts nach Brandenburg im Januar dieses Jahres. Kein Einzelfall – erst im Oktober 2019 war mit einem Jugendlichen aus Guinea ebenso verfahren worden. Auch diese Praxis wurde von der Behörde mit der Durchsetzung geltenden Rechts legitimiert, die UN-Kinderrechtskonvention, die behördliches Handeln „in the best interest of the child“ vorschreibt, ignorierend. Gerade rechtzeitig zur zweiten „Umverteilung“ im Januar hat die Sozialbehörde eine Verwaltungsanweisung erlassen, die das behördliche Vorgehen bei diesem Verstoß gegen internationales Recht und den Geist der Jugendhilfe beschreibt. Ihr Zweck ist, dem Ganzen durch bürokratische Kleinschrittigkeit einen legalistischen Nimbus zu verleihen. Auch hier wird der kolonial-rassistische Bezug sichtbar, wenn man sich klar macht, dass diese Jugendlichen mit ihrer Entscheidung, Bremen und damit ihre sozialen Bezüge und emotionalen Bindungen nicht verlassen zu wollen, eigentlich genau ein Ziel der Jugendhilfe erfüllt haben, nämlich das eigene Leben selbstverantwortlich und aktiv zu gestalten. Ihr einziger „Fehler“: Sie hatten die falsche Staatsangehörigkeit und wurden somit in die Gruppe der „non citizens“ sortiert, für die offensichtlich andere Maßstäbe und weniger Rechte gelten. Die kolonial-rassistischen Kontinuitäten zeigen sich deutlich, wenn man sich bildlich vergegenwärtigt, was hier geschehen ist: Es ist der gefesselter Körper von Minderjährigen, die ihrer Rechte beraubt von „weißen“ Erwachsenen, mit Macht ausgestatteten Polizist*innen und Jugendamtsmitarbeiter*innen quer durch die Republik gefahren werden. Vor allem aber: Hier wird der staatlich legitimierte Raub an Würde konkret an diesem jungen Körper praktiziert.
Nehmen wir das Anliegen des postkolonialen Erinnerungskonzeptes, Rassismus abzubauen, beim Wort, so lässt auch der Umgang der Bremer Politik mit der Landesaufnahmestelle in der Lindenstraße in Bremen-Vegesack einigen Handlungsbedarf offenkundig werden: Bereits zu Beginn der Pandemie haben die Bewohner*innen der Lindenstraße dafür gekämpft, sie zu evakuieren und sie nicht der kaum vermeidbaren Ansteckung mit Covid-19 zu überlassen. Woche für Woche sind ihre Forderungen nicht nur übergangen worden, sie mussten sich von der Sozialbehörde sogar anhören, dass die Unterbringung dort schon ganz in Ordnung sei, obwohl es offenkundig ist, dass Physical Distancing nicht möglich ist. Die aktuellen Ansteckungszahlen belegen dies. Inzwischen liegt die Ansteckungsrate in der Lindenstraße bei über 33 Prozent.
Es ist an Zynismus kaum zu überbieten, dass statt einer umgehenden Evakuierung des Lagers und der getrennten Unterbringung der noch nicht Infizierten nun als Verbesserung angekündigt wird, dort zukünftig psychologische Hilfe anzubieten. Doch auch dass Gewalt und Ignoranz in Paternalismus gekleidet werden, hat koloniale Tradition. Die Menschen, die in der Lindenstraße leben, kommen in den offiziellen Verlautbarungen gar nicht als selbstbestimmte Subjekte vor. Vielmehr werden sie wahlweise als zu umsorgende oder zu kontrollierende Gruppen und Kollektive dargestellt. Dass die verantwortliche Sozialsenatorin die durch unterlassene rechtzeitige Evakuierung herbeigeführten massenhaften Infektionen nun forsch „für Virologen interessant“ befindet, hat einen ganz besonderen Beigeschmack.
Denn auch ein solcher Blick auf „Seuchenherde“ hat koloniale Tradition. Die gesamte Geschichte der Tropenmedizin und der Epidemiologie ist aufs Engste mit dem Kolonialismus verbunden. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Person Robert Kochs, der Menschenexperimente an kolonialisierten Menschen des afrikanischen Kontinents durchführte.
Quelle: taz.de