Welcome to the Frontlines: Jenseits von Gewalt und Gewaltlosigkeit
Im Folgenden veröffentlichen wir einen schon einige Wochen alten Text von cuangcn.org. Der Text analysiert auf der Basis der Kampferfahrungen von Hong Kong bis Santiago die Dynamiken zwischen den „gewaltfreien“ und „militanten“ Elementen in aufständischen sozialen Momenten und Protestbewegungen. Ausgehend von den hiesigen Verhältnissen, in denen die Teilnehmenden an Protesten sich oft nur ein mildes Zugeständnis an die „Vielfalt der Mittel“ abringen können, drängt der Text in Richtung eines vertieften Verständnisses der Beziehungen, die wir, um die Herrschaft des Kapitals und der Polizei zu brechen, entwickeln müssen. Frei von jedem Gedanken an eine fiktive Einheit der Protestierenden entwickeln die Autor*innen eine taktische Perspektive und konfrontieren uns letztlich auch mit der Frage, wie wir selber agieren wollen und ob Demonstrationen, Spontis, ein Abend mit Freund*innen in den Straßen … nicht von uns immer als Momente verstanden werden können, um zu handeln – orientiert an unseren Bedürfnissen, jedoch bewaffnet mit einem taktischen Verständnis vom Kampf gegen die uns Unterdrückenden Cops.
Es ist uns ein Anliegen diesen Text auch in Bremen und umzu zugänglich zu machen. Möge er unsere Diskussionen befeuern! Viel Spaß beim lesen!
In den vergangenen zwei Wochen hat es in den USA einige der größten und militantesten Proteste und Ausschreitungen seit Jahrzehnten gegeben. Die nun landesweite Bewegung begann in Minneapolis nach dem Mord an George Floyd durch die Polizei. Die Wut, die darauf folgte, führte zu Massendemonstrationen, Konfrontationen mit der Polizei, Brandstiftung und Plünderungen, Trauer und Rebellion, die sich innerhalb weniger Stunden im ganzen Land ausbreiteten. Die Polizeiwache des Dritten Bezirks von Minneapolis, in dem die Mörder gearbeitet hatten, wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und von New York bis L.A. wurden die Polizeiautos in Brand gesteckt. Dies ist der am weitesten verbreiteten Schaden an den Strafgebäuden des US-Staates in diesem Jahrhundert, der durch die jahrzehntelange Wut über rassistische Polizeiarbeit und den unaufhörlichen Strom von Morden durch die Polizei an Schwarzen angefacht wurde. Jetzt diskutiert selbst die reformorientierte parlamentarische Linke ernsthaft über eine abgeschwächte Version der Abschaffung der Polizei auf nationaler Ebene, die als „defunding“ neu vorgestellt wird, und der Stadtrat von Minneapolis hat sich verpflichtet, die Polizeibehörde der Stadt „aufzulösen“. Vor nicht allzu langer Zeit wäre eine solche Forderung noch als utopisch angesehen worden.
Während sich die Bewegung gegen Polizeibrutalität und die Institution der Polizei selbst in den USA rasch entfaltet, haben wir in ihr bereits die Spuren anderer Unruhen und Massenkämpfe gesehen, die im vergangenen Jahr überall auf der Welt entstanden sind, von Chile bis Frankreich, Libanon, Irak, Ecuador und Katalonien, um nur einige zu nennen. Hier wäre eine umfassende Analyse der Rebellion in den USA verfrüht, da die Brände der Unruhen in den Städten des Landes buchstäblich immer noch brennen. Stattdessen möchten wir einige kurze Anmerkungen zu den Kämpfen in Hongkong machen, die wir nach besten Kräften aufmerksam verfolgt haben, und uns dabei auf eine bestimmte taktische Neuerung konzentrieren, die unserer Meinung nach einen hilfreichen Beitrag zu den anhaltenden Protesten in den USA und darüber hinaus leisten könnte. Wir haben bereits gesehen, wie die Menschen auf den Straßen die verstreuten Lehren aus Hongkong und anderen Brennpunkten des globalen Zyklus der Rebellionen des vergangenen Jahres übernommen haben:eine wohl im Hongkong-Stil gehaltene Barrikade von Einkaufswagen vor dem umkämpften Gebäude des dritten Bezirks in Minneapolis, Techniken zum Löschen von Tränengas in Portland, Berichte über Laser, die in mehreren Städten Polizeikameras und Visiere blenden, Regenschirme, die bei Protesten in Columbus und Seattle gegen Pfefferspray gehalten wurden, und Graffiti shout-outs nach Hongkong auf vernagelten oder geplünderten Geschäftsfronten in mehreren Städten. Die Ähnlichkeiten waren in der Tat so frappierend, dass der paranoide Chefredakteur der chinesischen Staatsmedien-Boulevardzeitung The Global Times, Hu Xijin, zu dem Schluss kam, dass „Hongkonger Unruhestifter in die Vereinigten Staaten eingedrungen sind“ und die Angriffe „geplant“ hätten.
"You see people very effectively deploying Hong Kong tactics here, deploying Hong Kong tactics here, to stop these tear gas from gassing protesters and vehicles"
Go Portland! Use dat big brain HK IQ!https://t.co/o29tZOPMoI#GeorgeFloydProtests pic.twitter.com/5BGFUKCH3u
— woppa 🎗😷 (@Woppa1Woppa) June 3, 2020
Wir können wenig tun, um die Entwicklung dieser Bewegung zu lenken (und würden es auch nicht wollen), aber wir hoffen, dass einige der Werkzeuge und Taktiken, die unsere Freund:innen und Genoss:innen in Hongkong anwenden, denen von Nutzen sein könnten die auf den Straßen anderer Städte unterwegs sind .1 Insbesondere wollen wir euch die Evolution der „Frontlinien“ in der Hongkong-Bewegung zur Betrachtung anbieten, in der Hoffnung, dass sie hilfreich sein könnte, um die Kluft zwischen Militanten und friedlichen Teilnehmer:innen auf den Straßen anderswo zu überbrücken.
Wie in früheren Bewegungen gab es bereits erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wie mit den Streitkräften des Staates in den USA umgegangen werden soll. Wie bei anderen Bewegungen seit Ferguson und davor haben einige (aber nicht alle) formelle aktivistische Organisationen begonnen, sich mit dem „weichen“ Flügel des lokalen Repressionsapparates zu befassen und sind in Aktion getreten, um die Militanz des ersten Aufstands zu bremsen: „Community leaders“ kollaborieren mit der Polizei, indem sie Menschenmengen in Hinterhalte und Kessel führen und buchstäblich „gewalttätige“ Demonstranten in der Menge hervorgeben. Währenddessen behaupten die Kommunalverwaltungen landesweit, dass diejenigen, die die Zerstörung von Eigentum initiieren oder gegen die Polizei kämpfen, „Agitatoren von außen“ seien, wobei der Bürgermeister von Seattle twittert, dass „ein Großteil der Gewalt und Zerstörung, sowohl hier als auch im ganzen Land, von weißen Männern angezettelt und verübt wurde“. Aber es ist überdeutlich, dass die aufgestaute Wut gegen die Polizei extrem weit verbreitet ist, und auf den Straßen hat sich ein breiter Konsens darüber herausgebildet, dass sie bekämpft werden muss.
Hongkong bietet vielleicht einen Weg, der der scheinbaren Unvermeidbarkeit von Konflikten über Gewalt, Gewaltlosigkeit und den Umgang mit den staatlichen Kräften entkommt. Für diejenigen, die nach einem neuen Weg suchen, um die Kluft zwischen militanten und friedlichen Formen der Beteiligung zu überbrücken, ist unserer Meinung nach einer der wichtigsten Beiträge der Stadt zur neuen Ära der Kämpfe die Entwicklung besonderer Rollen und Formationen, die auf den Straßen eingesetzt werden, sowie die dahinter stehenden Strukturen, die dazu beigetragen haben, diejenigen, die bereit sind, gegen die Bullen zu kämpfen, besser mit anderen in der Bewegung zu verbinden. Insbesondere möchten wir das Konzept der „Frontliners“ in Hongkong hervorheben, die nicht nur viele erfolgreiche Techniken zur Konfrontation mit der Polizei entwickelt haben, sondern auch durch viele Monate des Experimentierens eine neue Art der Beziehung zwischen den militanten und gewaltlosen Elementen von Straßenaktionen aufgebaut haben.
more umbrellas on the front line here in seattle. we are about five minutes past curfew and so far it’s still really peaceful. if you want to watch the live dm me for the link pic.twitter.com/ZyKMoGe0PL
— katie (@shikonshoto) June 3, 2020
Was bedeutet es, „an vorderster Front“ zu stehen? Der Begriff ist in den letzten Monaten in allen Sprachen und sozialen Bereichen unglaublich populär geworden, insbesondere in Bezug auf medizinisches Personal und andere, die besonders anfällig für die andauernde Pandemie sind. Dies hat den ursprünglichen Anstieg der Popularität des Begriffs in der Berichterstattung der Mainstream-Medien im vergangenen Jahr verdunkelt, wo er sich auf Demonstrierende in verschiedenen Teilen der Welt bezog. Die offiziellen Lobeshymnen auf die Arbeiter:innen, die in Wuhan und New York aus der Schicht kommen, sind ein seltsames, staatlich orchestriertes Echo des Jubels „¡vivan lxs de la primera línea!“, mit dem die Demonstrierenden begrüßt wurden, die im vergangenen Herbst von den Kämpfen mit der Polizei in Chile zurückgekehrt waren. Was die vielseitigen und scheinbar gegensätzlichen Mobilisierungen dieses Begriffs ermöglichte, war genau seine Fähigkeit, ansonsten geteilte Aktivitäten auf effektive Weise zu integrieren und eine Einheit vorzuschlagen, die sich nicht durch Homogenität, sondern durch die Unterstützung des gesamten Kampfes definiert, symbolisiert durch diejenigen an der „Frontlinie“. Jetzt, mit der Rückkehr der Unruhen in die USA, scheint es möglich, dass sich die Verwendung des Begriffs wieder denjenigen zuwendet, die sich gegen die Polizei stellen: In Connecticut steht eine Reihe von schwarz gekleideten Demonstrierenden der Polizei gegenüber, die Masken tragen, die ursprünglich dazu gedacht sein müssen, die Ausbreitung des Virus zu verhindern, und in einem unscharfen Screenshot des Augenblicks hält eine Frau ein Schild, auf dem steht: „the only allies are the ones on the frontlines“.
Die Grundidee, die es dem Konzept der Frontlinie erlaubt, die Bewegung über die alten Trennlinien zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit oder „Vielfalt der Taktiken“ hinaus zu integrieren, besteht darin, dass die Menschen an der Frontlinie persönliche Risiken eingehen, um die Menschen in ihrer Umgebung zu schützen, idealerweise mit (aber oft ohne) ausgeprägte Schutzausrüstung, und dass diese Risiken dazu beitragen, die gesamte Bewegung voranzubringen. Dies ist auch der Grund, warum sich das Konzept so leicht auf die Reaktion auf eine Pandemie ausdehnen lässt, denn die grundlegende Logik des persönlichen Risikos zur Unterstützung des Kampfes ist mehr oder weniger identisch. Aber in diesen Fällen hatte der Staat ein klares Interesse daran, den Begriff zu mobilisieren, um die Reaktionen der Bevölkerung zu kooptieren oder seine eigene Inkompetenz zu verschleiern, wobei das letztendliche Ziel nach wie vor darin besteht, die Pandemie zu unterdrücken. Nun hat der Staat jedoch kein solches Interesse, da er nicht das gleiche Ziel verfolgt wie die Demonstrierenden, die sich auf das Konzept der Frontlinie berufen. Stattdessen wird er sie als „community leader“ ausgeben und sie vielleicht sogar so darstellen, als seien sie in irgendeiner Weise „an der Frontlinie“ der Bewegung gewesen, aber es besteht keine Notwendigkeit, auch nur so zu tun, als unterstütze er diejenigen, die tatsächlich mit der Polizei in Konflikt stehen. Das bedeutet, dass der Begriff die Fähigkeit besitzt, zu der Bedeutung zurückzukehren, die er in Hongkong gewonnen hat, definiert durch das Eingehen von Risiken zur Verteidigung aller oder den Akt, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um alle anderen zu schützen und gleichzeitig den Kampf voranzutreiben.
Im Verlauf der eskalierenden Straßenkämpfe im Jahr 2019 brachten die Demonstrierenden in Hongkong Innovationen im Eiltempo hervor, darunter die Erfindung neuer Ausrüstung und eigenständiger Formationen mit spezifischen taktischen Positionen, die innerhalb des Protestkörpers besetzt werden sollten. Die Kämpfenden der Frontline erwies sich in diesem Zusammenhang als eine erkennbare Position für diejenigen, die sich mit Panzerung und Strategien zur Eindämmung von Tränengas direkt gegen die Polizei stellten, unterstützt von Genossen in der zweiten und dritten Linie.
Diese taktische Neuerung verbreitete sich rasch, zunächst in Chile und dann auch in anderen lateinamerikanischen Kontexten. Der erste Sprung von Hongkong nach Chile geschah wahrscheinlich durch “riot porn“, Krawallvideos die auf YouTube hochgeladen wurden, oder einfach durch die berauschende Luft des Aufruhrzyklus von 2019. Ein/e Teilnehmer:in eines chilenischen Frontlinien-„Clans“ macht deutlich, dass die Taktik seiner Gruppe aus Hongkong übernommen wurde. Schon bald darauf bereiteten andere örtliche Randalierende bemerkenswert ähnliche Taktiken vor, darunter Schilde, Slogans, einfallsreiche Barrikadenbauten und die weit verbreitete Verwendung von Hochleistungs-Laserpointern als Mittel zur Störung der Polizeikameras und um ihre Weitsicht einzuschränken (sowie, in einem denkwürdigen Fall, die Zerstörung einer Polizeidrohne). Über diese spezifischen Anpassungen hinaus war auch die Struktur der chilenischen Bewegung nach erkennbaren Linien organisiert: Nach einer Periode von Demonstrationen gegen die Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel, einschließlich weit verbreiteter organisierter Schwarzfahrerausflüge und großer Demos, löste ein hartes Vorgehen der Polizei dann massive Demonstrationen und Ausschreitungen aus, die in Chile allgemein als „soziale Explosion“ bezeichnet werden. Auf dem Video eines Protests auf der Plaza Italia in Santiago, Chile, bemerkt ein Mann auf einem Gebäude mit Blick auf den Platz aufgeregt, dass die Demonstration „nur wegen einer Gruppe von Kids möglich ist“, die sich organisiert haben, „um die repressiven Kräfte zu stoppen“.
In der Folgezeit, als in Städten im ganzen Land der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, wurde der Raum für friedliche Demonstrationen von einer Frontlinie von Demonstranten verteidigt, die bereit waren, gegen die Polizei zu kämpfen. Wie in Hongkong wurden diese Frontlinien in erster Linie nach ihrer Rolle organisiert: Schildträger:innen, Steinewerfer:innen, Sanitäter:innen, „Miners“ (die Projetile produzieren), Demonstrierende in der hinteren Reihe mit Lasern, um die Sicht der Polizei oder Kameras zu stören, und Barrikadenkämpfer:innen, um Vorstöße zu blockieren. Im Gegensatz zu späteren Entwicklungen in der Hongkonger „Be Water“-Strategie, bei der der Schwerpunkt auf der Ermüdung der Polizei durch ständige Bewegung lag, begann die chilenische Bewegung damit, dass die Kämpfenden der Frontline bestimmte Linien um die „Nullzone“ oder „rote Zone“ errichteten und verteidigten, um die Polizei daran zu hindern, in Gebiete einzudringen, in denen sich andere Demonstrierende versammelt hatten. Mit zunehmender Repression wurden die täglichen Zusammenstöße jedoch im Wesentlichen Schlachten “Straße um Straße“ zwischen organisierten „Frontliners“ und der Polizei. Dennoch wurde die Bedeutung der Frontline als Instrument zur Ermöglichung von Protesten von den Menschen innerhalb und außerhalb der Bewegung weithin anerkannt, und „Vertreter:innen der Frontline“ wurden bei der Einladung zur Teilnahme an Talkshows wild umjubelt. Wie in Hongkong wurden die Kämpfenden der Frontline, die autonome Gruppen zur Verteidigung der Bewegung bildeten, von externen Teilnehmer:innen unterstützt, sowohl anonym als auch als Gruppen, wie einige rechte Medien beklagten.
Ähnliche Taktiken wurden auch in Kolumbien via Chile und Hongkong angewandt, als Gruppen, die sich auf Facebook organisierten, erkannten, dass es notwendig war, die Demonstrierenden der dortigen Studierendenbewegung vor Polizeigewalt zu schützen. Die frühen Elemente der prominentesten Frontgruppen erklärten jedoch, dass sie in rein „defensiver“ Weise handeln würden, anstatt die Polizei direkt anzugreifen. Als jedoch die breitere Volksbewegung nachließ, begannen sich die Meinungen über diese Gruppen (die sich durch ihre medienfreundlichen blauen Schilder auszeichneten) zu ändern. Die „Frontliner“ übernahmen bewusst Hongkongs „Be Water“-Strategie, aber dies wurde von vielen in der Bewegung als physische Aufgabe der Studierendenbewegung empfunden, die nicht die gleichen taktischen Entscheidungen getroffen hatte. Im weiteren Sinne wurden die „Frontliner“ bei den kolumbianischen Studierendenprotesten als opportunistisch empfunden, da sie versuchten, medienfreundliche Spektakel zu veranstalten und Märsche abseits der vereinbarten Routen anzuführen. Letztendlich entfremdete sich diese Art von höchst anorganischer „Frontlinie“ von der Unterstützung, die sie zunächst vom Rest der Bewegung erhielt.
In diesen verschiedenen Kontexten hat die Entwicklung der Rolle der „Frontliners“ einen bedeutenden Fortschritt in der Taktik der Konfrontation mit der Polizei auf der Straße bedeutet. Solche Taktiken müssen sich natürlich je nach der jeweiligen Situation ändern, aber wir können aus dem ständig wachsenden globalen Wissen über den Kampf lernen. In den etwa zehn Jahren nach dem Niedergang der globalisierungskritischen Bewegung verdichtete sich die Diskussion über Taktiken zur Bekämpfung der Polizei weitgehend zu Debatten über den „Schwarzen Block“. Ursprünglich aus dem Deutschland der 1980er Jahre stammend, bezieht sich der „Schwarze Block“ auf die Taktik des Tragens passender, vollständig schwarzer Demokleidung, die die Polizei daran hindert, einzelne Personen aus der Menge herauszupicken. Zum Teil wegen seines praktischen Erfolgs waren die Aktionen des Schwarzen Blocks in den USA und in weiten Teilen Europas Gegenstand endloser Debatten, die letztlich auf die Rolle hinauslaufen, die militante Aktionen bei Straßenprotesten spielen sollten. In den USA war das Endergebnis eine Entspannung, bei der die Demonstrierenden, die die Militanz unterstützten, und diejenigen, die nur nicht-konfrontative Aktionen unterstützen konnten, so weit gingen, dass sie Stadtviertel aufteilten, um eine Interaktion zwischen den Gruppen zu verhindern. Behauptungen, der Schwarze Block schütze gewaltlose Demonstrierende (entweder direkt oder durch das Umlenken polizeilicher Repression und Ressourcen an anderer Stelle), waren häufige Streitpunkte, haben aber nie zu einem Konsens geführt. Allenfalls wird für eine „Vielfalt der Taktiken“ plädiert, was vielleicht der beste Ausdruck für diese fragile Entspannung ist.
Schon früh in solchen Bewegungen ermöglicht die Vielfalt der Taktiken eine zarte Koexistenz sowohl von militantem als auch von friedlichem Protest, da es viele Teilnehmde und mehrere Demos gibt, so dass die Menschen sich auf die Orte verteilen können, an denen ihre bevorzugte Marke vorherrscht. Der Begriff stellt sich effektiv komplett getrennte Sphären vor, in denen „unterschiedliche Taktiken“ stattfinden können. Aber das ist oft nicht der Fall. In dem Maße, wie die staatliche Repression zunimmt und der anfängliche Schwung nachlässt, sind die beiden Sphären gezwungen, zu verschmelzen. Genau an diesem Punkt sind aggressivere Taktiken erforderlich, um die Bewegung als Ganzes gegen die Polizei zu verteidigen und die Dinge weiter voranzutreiben, wenn die Energie der Teilnehmenden nachlässt. Einerseits wird dann die repressive Funktion des Staates aktiviert, da die örtliche Polizei neu ausgerüstet wird und Unterstützung von höheren Regierungsebenen erhält. Andererseits ist dies aber auch der Moment, in dem der Staat seinen Apparat der sanften Kontrolle in Form von „community leadern“, gemeinnützigen Organisationen und „progressiven“ Politiker:innen mobilisiert, die alle eine wesentliche Rolle bei der Auflösung des schwachen taktischen Bündnisses spielen, das in der Anfangszeit bestand. Dies sind schließlich die Menschen, denen es am besten gelingt, den Mythos vom „outside agitator“ zu verbreiten, die Zerstörung von Eigentum durch die „white anarchists“ zu verspotten und einzugreifen, um Angriffe auf die Polizei zu verhindern oder buchstäblich sogar die Befreiung anderer Demonstrierender zu verhindern. Sie ermutigen die Menschen dazu, ihre Smartphone Kameras umzudrehen und nun aufzunehmen, wer Flaschen auf die Polizeil geworfen hat und überfluten die sozialen Medien mit Beiträgen, in denen behauptet wird, Polizist:innen oder sogar weiße Nationalist:innen seien diejenigen, die die ersten Fenster eingeschlagen haben.
Bei den Protesten 2019 in Hongkong und Chile wurde jedoch auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten die Behauptung, dass der Block andere schützt, zu einem klaren und unbestreitbaren Stück Allgemeinwissen. Dies war zum Teil dadurch möglich, dass alle früheren Bedeutungen, die mit den Protesten des Schwarzen Blocks verbunden waren, ausgelöscht und durch die Rolle des/der Frontliners ersetzt wurden: jenen Protestierenden, die, indem sie sich selbst großer Gefahr und allgegenwärtigem Tränengas aussetzten, in keiner anderen Eigenschaft handelten als der Verteidigung aller anderen im Protest vor der Polizei. Dies stellt eine Verschiebung dar: Es gibt nicht mehr eine große geographische Trennung in zwei Gruppen von Protestierenden (eine Zone für friedlichen Protest und eine andere für Konfrontation), sondern eine einzige Gruppe, die sich zusammenschließt und an der Frontlinie von denen geschützt wird, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, dort zu sein. In einem noch umfassenderen Sinne, und vielleicht noch wichtiger, haben die Proteste in Hongkong und Chile die Rolle der schwarz gekleideten, maskierten und militanten Demonstranten, die bereit sind, gegen die Polizei zu kämpfen, völlig neu konfiguriert. Im Gegensatz zur Situation in den USA, wo es Medien und Polizei oft möglich ist, bei der Isolierung von Militanten zusammenzuarbeiten, sie also vom Hauptkörper der „guten Demonstrierenden“ getrennt und sogar noch weiter vom politischen Gremium insgesamt entfernt darzustellen, wurde Frontliners auch weitgehend (wenn nicht sogar vollständig) so verstanden, dass sie zur Verteidigung aller anderen, Protestierender wie Nicht-Protestierender, dienen, indem sie den Widerstand gegen einen unhaltbaren Status quo ermöglichen.
Der Aufbau einer wirksamen Solidarität zwischen „mutigen Kämpfer*innen“ (勇武) und Anhänger*innen der „friedlichen, rationalen Gewaltlosigkeit“ (和理非) war weder das automatische Ergebnis der aufkommenden Bewegung im Jahr 2019 in Hongkong, noch geschah dies über Nacht. Wie in den USA waren die früheren Bewegungen in Hongkong entlang der ideologischen Linien von Militanz und Gewaltlosigkeit gespalten, ebenso wie zwischen denjenigen auf der Straße und der „kontrollierten Opposition“ der pandemokratischen Parteien im Legislativrat (LegCo).2 Wir müssen uns daran erinnern, dass die Proteste von 2019 nach Jahren des Experimentierens stattfanden, einschließlich der Entstehung und des Scheiterns der Umbrella-Bewegung 2014: ein ebenso massiver und weitgehend „friedlicher“ Protest, der alle von liberalen Befürwortern der Gewaltlosigkeit befürworteten Kästchen angekreuzt hat.
Als diese Bewegung so entschieden besiegt wurde, begann die Jugend Hongkongs auf neue Art und Weise zu agitieren – zunächst in viel kleineren Straßenaktionen, wie den seltsamen und immer noch umstrittenen „Fischball-Unruhen“ von 2016. Bei diesen Aktionen sahen wir, wie in einer Massendemonstration so etwas wie die Frontlinie von ihrer Basis abgetrennt wurde. Junge Menschen, die noch immer unter dem kläglichen Scheitern des „Friedens, der Liebe und der Gewaltlosigkeit“ von 2014 leiden, stürzten sich stattdessen in die direkte Konfrontation, erklärten den Bullen den Krieg, stapelten und warfen Ziegelsteine und führten dann die „Be Water“-Strategie ein; die Verweigerung einen festen Raum zu halten. Gleichzeitig warteten sie nicht darauf, dass sich ihnen weitere Demonstrant*innen anschlossen, und sie unternahmen keine Anstrengungen zur Rekrutierung. Das Ergebnis war, dass die Frontlinien bei den Fischball-Unruhen, so wie sie waren, nichts von der Konnotation hatten, andere zu verteidigen, die sie jetzt halten. Dieser Fall von Ausschreitungen ist unter den Hongkongern innerhalb der Protestbewegung immer noch umstritten, weil sein isolierter Charakter ihn zu einer Art riskantem Abenteurertum machte [wie kann etwas “nur“ Abenteuertum sein, sich aber in der Retrospektive als wichtige Erfahrung rausstellen? Anm. d. Ü.](ganz zu schweigen von der Rolle, die rechtsextreme Lokalisten bei den Ausschreitungen spielten). Jetzt sehen wir jedoch, wie sehr ähnliche Taktiken wieder eingesetzt und ausgefeilt werden, allerdings in einem auffallend anderen Kontext. Es ist, als ob die Taktiken, die sowohl bei den (relativ) friedlichen Aktionen von 2014 als auch bei den (relativ) gewalttätigen Konfrontationen mit der Polizei von 2016 erprobt wurden, schließlich gezwungen waren [sic! Anm. d. Ü.], sich zu einer wirksamen Synthese zusammenzufügen.
Die Wurzeln dieser Synthese lassen sich vielleicht am besten gegen Ende der Umbrella-Bewegung erkennen, die durch manchmal konfliktreiche Interaktionen zwischen formellen Organisationen und Zehntausenden von autonomen Teilnehmer*innen Gestalt annahm. Während der Besetzungen der Zentrale und später von Mong Kok wurden einige Elemente der Bewegung zentral organisiert, wobei sich die Besetzungen um eine „große Bühne“ (大台) konzentrierten, die im Wesentlichen von großen politischen Organisationen kontrolliert wurde, insbesondere von den beiden Studierendengruppen: der HK Federation of Student Unions and Scholarism (eine von Gymnasiasten gegründete Gruppe) sowie den wichtigsten Wahlparteien des pandemokratischen Lagers und einer Reihe etablierter NGO-Aktivisten. Während diese Besetzungen ohne große Mengen autonomer Arbeit und Aktionen niemals hätten beginnen können – geschweige denn sich selbst erhalten -, versuchten formelle Organisationen, eine gewisse Kontrolle über die Gestalt der Bewegung zu behalten, und in einigen Fällen versuchten sie, bestimmte Aktionen abzubrechen, von denen einige ohnehin ohne ihre Unterstützung weitergingen. Diejenigen in Führungspositionen waren jedoch die Gruppen, die schließlich in Verhandlungen mit der Regierung traten. Wie in vielen westlichen Kontexten waren diese Organisationen weitgehend auf die so genannte „rationale Gewaltlosigkeit“ ausgerichtet. Die Spannungen zwischen den Radikalen und denjenigen, die die Bühne kontrollierten, stiegen jedoch im Laufe der Bewegung an und erreichten ihren Höhepunkt nach einem Angriff von Demonstrierenden auf das Gebäude des LegCo, woraufhin gewaltfreie Demonstrierende und Organisator*innen alle Kämpfende als Geheimagent*innen Pekings oder „wreckers“ [Zerstörer*innen] bezeichneten. Auf der anderen Seite begannen einige Demonstrierende Parolen zu verbreiten, in denen sie die Demontage der Hauptbühne (und des Machtzentrums, das sie repräsentierte) forderten (拆大台) und die Auflösung der Streikposten forderten, die versucht hatten, die Angriffe auf das LegCo zu stoppen (散纠察).
Nach dem Scheitern der Umbrella-Bewegung und der Räumung der Besetzungen war in der ersten Periode der Anti-Auslieferungsbewegung 2019 – vom Gesetzesvorschlag im März 2019 bis zum Zwei-Millionen-Marsch am 16. Juni – rationale Gewaltlosigkeit immer noch die vorherrschende Taktik. Nachdem die Regierung jedoch angesichts der gewaltlosen Massenbewegung nicht bereit war, das Gesetz zurückzuziehen, und nach zunehmend gewaltsamer Polizeirepression, bildete sich ein grober Konsens über einige Grundprinzipien heraus: Aus dem Scheitern der Umbrella-Bewegung lernend, sollten die neuen Proteste nicht um ein zentrales Gremium herum organisiert werden und würden nicht versuchen, Raum einzunehmen und zu halten. Diese Organisationsform wurde insbesondere in Bezug auf die Hauptstadien der Umbrella-Bewegung verstanden, wobei „Dezentralisierung“ als Slogan und Organisationsprinzip im Kantonesischen als „ohne große Bühne“ (无大台) dargestellt wurde.3
Gleichzeitig schufen die Erfahrungen mit der Gewalt der Polizeirepression eine Atmosphäre der Solidarität unter den Protestierenden. Auf der Grundlage einheitlicher Forderungen – zunächst nach einer Rücknahme des Auslieferungsgesetzes und dann nach einer Untersuchung der Polizeibrutalität, einem Ende der Einstufung Demonstrierender als Randalierende, einer Amnestie für Verhaftete und Teilnehmende am allgemeinen Wahlrecht – wurde ein breiter Konsens darüber erzielt, dass ein Erfolg ein gewisses Maß an Einigkeit zwischen Militanten und friedlichen Demonstrierenden voraussetzt: „keine Spaltungen, kein Verzicht, kein Verrat“ (不分化、不割席、不督灰) oder, positiver ausgedrückt, „jede*r kämpft auf seine Weise, wir erklimmen den Berg gemeinsam“ (兄弟爬山,各自努力) und „die Friedfertigen und Tapferen sind unteilbar, wir stehen auf und fallen gemeinsam“ (和勇不分、齐上齐落). Umfragen unter den Teilnehmenden der Bewegung, die Anfang Juni vor Ort durchgeführt wurden, ergaben, dass 38% der Befragten der Meinung waren, dass „radikale Taktiken“ nützlich seien, um den Staat dazu zu bringen, den Forderungen der Demonstrierenden Gehör zu schenken, aber im September stimmten 62% zu. Auf die Frage, ob angesichts der Unnachgiebigkeit des Staates radikale Taktiken verständlich seien, stimmten bereits im Juni fast 70% zu, und bis Juli war dieser Prozentsatz auf 90% gestiegen. Im September gaben nur 2,5% der Befragten an, dass die Anwendung radikaler Taktiken durch die Demonstrierenden nicht verständlich sei. Bei der gleichen Umfrage im September stimmten über 90% der Teilnehmenden der Aussage zu, dass „die Zusammenführung friedlicher und militanter Aktionen der effektivste Weg ist, um Ergebnisse zu erzielen „4 Ein ähnlicher Wendepunkt könnte sich in den USA abzeichnen, da fast 80% der Befragten einer landesweiten Umfrage, bei der gefragt wurde, ob die Wut, die zu der gegenwärtigen Protestwelle geführt hat, „gerechtfertigt“ sei, mit Ja antworteten, und 54% gaben an, dass die Reaktion auf den Tod von George Floyd, einschließlich der Verbrennung eines Polizeireviergebäudes, gerechtfertigt sei.
In Hongkong ermöglichte der dezentralisierte Charakter der Bewegung in Verbindung mit dem wachsenden Gefühl eines einheitlichen, zwischen friedlichen und militanten Demonstrierenden geteilten Ziels die Bildung und Reproduktion erkennbarer Rollen, in denen sich die Teilnehmenden in autonom organisierten Gruppen gegenseitig unterstützen konnten, die anonym durch Online-Tools wie Telegram und Foren wie LIHK.org koordiniert wurden. Diese Werkzeuge und Organisationsstrukturen sind an sich schon eine separate Untersuchung oder einen Open-Source-Protestleitfaden wert: Telegram ermöglicht die Schaffung extrem flexibler Strukturen unter Wahrung der Anonymität [was nicht heißt das wir auch Telegram benutzen sollten, siehe: kuketz-blog.de, Anm. d. Ü.], was es den Protestierenden und Unterstützer*innen ermöglichte, ein ganzes digitales Ökosystem zu entwickeln, das entscheidend war, um die Polizei in Echtzeit zu überlisten und zu täuschen. Die „Kanal“-Funktion Telegrams ermöglichte die Schaffung massiver, groß angelegter Chatrooms, ähnlich der Kommentarfunktion der Livestream-Software, die die Demonstrierenden in den USA benutzen. Doch obwohl diese „öffentlichen Meere“ (公海) in der Lage waren, einige nützliche Informationen zu liefern, wurde davon ausgegangen, dass sie aufgrund ihres öffentlichen Charakters unter polizeilicher Überwachung standen, und die sensible Organisation erfolgte in Breakout-Kanälen mit vertrauenswürdigen Freund*innen.
Die Demonstrierenden schufen auch andere Kanäle speziell für die gemeinsame Nutzung von Polizeistandorten und Fluchtwegen, die schließlich Zehntausende von Protestteilnehmer*innen erreichten. In diesen Kanälen ist die Entsendung auf Admins oder speziell dafür bestimmte Bots beschränkt, die verifizierte Informationen über den Standort und die Disposition der Polizeikräfte weitergeben und so dazu beitragen, das bei jedem Protest verbreitete Phänomen der Gerüchte über eine Flucht zu unterbinden. Diese Informationen stammen ihrerseits von Personen, die als Spotter am Rande von Protestmärschen arbeiten und in bestimmten Kanälen Aktualisierungen in einem bestimmten Format senden, so dass sie leicht standardisiert und an Datenaggregatoren weitergeleitet werden können, die sowohl Scoutkanäle als auch Livestreams überwachen und Aktualisierungen von Ankündigungskanälen und Echtzeitkarten von Polizeistandorten veröffentlichen.
Über die Berichterstattungsfunktionen hinaus ermöglichten die für spezifische Aktionen geschaffenen Telegramkanäle den Teilnehmenden auch, Informationen über Bedürfnisse weiterzuleiten (an dieser Kreuzung werden Sanis benötigt, in Kürze werden Hilfsmittel zur Reduzierung von Tränengas benötigt) und durch Abstimmungsfunktionen kollektive Entscheidungen über Reaktionen in Echtzeit zu treffen. Letzteres ermöglichte schnelle Entscheidungen, wie z.B. welchen Fluchtweg man wählen sollte, um einen Polizeiangriff zu vermeiden. Wichtig war, dass diese Organisationsmethoden sowohl Militante als auch diejenigen einbezog, die nicht willens, uninteressiert oder (wegen des Einwanderungsstatus, einer Behinderung oder einer anderen potenziellen Anfälligkeit für Polizeigewalt) nicht in der Lage waren, an der Front teilzunehmen: Während die Frontliners mit der Polizei und deren eskalierender Gewalt konfrontiert waren, beteiligten sich gewaltfreie Unterstützungspersonen an Aufmärschen, als Sanitäter*innen oder durch logistische Unterstützung (Verlegung von Barrikadenmaterial, Werkzeuge für den Umgang mit Tränengas oder Kleidung, in die sich schwarz gekleidete Frontliners umziehen konnten), als Copwatch mit Videokameras oder als Scouts, die andere Unterstützungspersonen, die als Datenaggregator*innen arbeiten, mit Informationen versorgten.
Viele der Wege, auf denen diejenigen „außerhalb“ der Frontlinien direkte materielle Unterstützung für die Frontlinge auf der Straße leisteten: Bei einigen Aktionen bildeten die Demonstrierenden ohne Ausrüstung menschliche Mauern, manchmal unter Verwendung von Regenschirmen, um die Frontliner zu schützen, während sie die Ausrüstung ablegten, die sie auf dem Heimweg zur Verhaftung markieren sollte. Andere, obwohl sie selbst nicht direkt als Frontliner teilnehmen, würden Sachbeschädigungen erleichtern, indem sie ihre Schirme benutzen, um die zerbrechenden Fenster vor der Sicht der Kameras zu schützen. Später in der Bewegung brachten Demonstrierenden außerhalb der Frontlinien die einzelnen Komponenten für Molotowcocktails zu Aktionen mit und bildeten Menschenketten, die die Frontliner mit Material versorgten, um sie rasch mit Flaschen, Benzin, Zucker und Lumpen zu versorgen.
Über diese spezifischen Unterstützungsaktionen hinaus wurde das bloße Verbleiben auf den Straßen während des Verbots öffentlicher Versammlungen schließlich als Mittel zur Unterstützung der Bewegung verstanden: Ein/e Freund*in erzählt die Geschichte einer anonymen älteren Büroangestellten in einer Rauchpause, die, nachdem sie bei Telegram gelesen hatte, dass eine Gruppe von Frontlinern in der Nähe seines Gebäudes Zeit gewinnen musste, bevor sie sich mit der Polizei Auseinandersetzen konnten, direkt auf die Polizeilinie zuging und versuchte, einen Streit mit den Cops anzufangen, weil sie dachte, dass ihre Identität als ältere, gut gekleidete Person ihre Chancen, verhaftet zu werden, verringern und ihm ein besseres Alibi verschaffen könnte. Diese Verallgemeinerung des Kampfes wird jedoch von einigen auch als ein Grund dafür angesehen, dass die Polizei sich schließlich der neueren Strategie der Auseinandersetzung und Massenverhaftung aller Personen in einem bestimmten Gebiet zuwandte: Man kann nun davon ausgehen, dass jede* und jeder*, die sich auf der Straße aufhält, an den Protesten Teil nimmt oder zumindest die Polizisten hasst.
Zu Beginn der Bewegung, vor der Verschärfung der polizeilichen Repression und der Verhaftungen im Spätsommer und Herbst 2019, war die Rolle der Frontliner jedoch relativ klar umrissen, wobei den Unterstützenden die Möglichkeit geboten wurde, sich von der direkten Konfrontation mit der Polizei fernzuhalten, indem sie Barrikaden errichteten, die Frontliner mit Vorräten versorgten, während sie Tränengas ablöschten, oder die Frontliner vor der Polizei versteckten, während diese ihre Ausrüstung auszogen. Diese Kluft war jedoch immer noch etwas problematisch, da die Akzeptanz der Frontlinie als Kernsegment der Bewegung denjenigen, die tatsächlich gegen die Polizei kämpften, in gewisser Weise eine Position „höheren Verdienstes“ verschaffte, wobei einigen friedlichen Demonstrierenden vorgeworfen wurde, nicht militant genug zu sein. Doch als die Akzeptanz militanter Aktionen parallel zur immer extremeren Polizeigewalt wuchs, begannen diese Spaltungen zu zerbrechen. Auf der einen Seite wurden Aktionen, die früher als friedlich verstanden wurden, mit einem immer größeren Risiko der Aufdeckung und Verhaftung verbunden.
So wurde zum Beispiel die Errichtung und der Schutz von „Lennon-Mauern“ der Protestkunst und des Selbstausdrucks ursprünglich als eine völlig „friedliche“ Form der Teilnahme verstanden, aber als die Zahl der gewalttätigen Angriffe auf die Lennon-Mauern und die Verhaftungen der daran arbeitenden Menschen zunahm, wurde es schwierig, ohne physische und psychische Vorbereitung auf Gewalt weiter teilzunehmen. Angesichts sowohl der Polizeigewalt als auch des „weißen Terrors“ der Angriffe pekingfreundlicher Schlägertrupps auf Demonstrierende wurde es immer schwieriger, die Kluft zwischen denen, die bereit waren, ihren Körper aufs Spiel zu setzen, und denen, die sich entweder zu einer risikoärmeren oder ethisch gewaltfreien Teilnahme verpflichteten, zu überwinden. Dies galt insbesondere, da immer mehr Demonstrierende verhaftet wurden. Für einige Freund*innen war die Entscheidung, sich der Frontlinie anzuschließen, allmählich und resultierte aus der allmählichen Aushöhlung der Unterschiede zwischen den Aktivitäten an der Frontlinie und anderen Möglichkeiten zur Unterstützung der Bewegung. Andere Freund*innen wiederum berichteten von schwierigen Gesprächen, die sie mit ihren älteren Eltern geführt hatten, die angesichts der Verhaftungen so vieler Jugendlicher beschlossen, sich selbst der Frontlinie anzuschließen, um die Lücke zu füllen.
Obwohl wir uns bewusst auf materielle Taktiken und nicht auf die politische Identität konzentriert haben, sollte anerkannt werden, dass die fünf Forderungen, die dazu beitragen, eine Grundlage für eine bewundernswerte Einheit der Demonstrierenden in Hongkong zu schaffen, auch erhebliche politische Spaltungen zum Ausdruck brachten. Insbesondere die Tatsache, dass die Bewegung so breit gefächert war, bedeutete, dass sie auch rechtsgerichtete lokalistische Strömungen einschloss (und in einigen Fällen von ihnen angetrieben wurde). Im Gegensatz zu den Gelben Westen in Frankreich, die über eine ähnlich breite Partizipationsbasis verfügten, diente die Eskalation militanter Taktiken bis hin zu Sachbeschädigungen nicht dazu, rechte Elemente aus der Bewegung zu vertreiben. Vielmehr war in Hongkong die Situation umgekehrt, und einige (aber bei weitem nicht alle) Linke schränkten ihre Beteiligung an der Bewegung ein, da sie nicht bereit waren, zusammen mit Nationalist*innen Parolen zu skandieren, die eine Revolution zur „Wiederherstellung“ Hongkongs forderten, oder sich an Märschen mit den wehenden Fahnen der US-amerikanischen oder kolonialen britischen Regime zu beteiligen.
Während die rassische Struktur der US-Politik die Beteiligung des rechten Flügels an dem andauernden Zyklus der Rebellion nahezu unmöglich macht (obwohl Politiker*innen Lügen verbreiten, die das Gegenteil behaupten), ist die Struktur der Hongkong-Bewegung um ein vereinheitlichendes Paket von fünf Forderungen dem US-Kontext ebenfalls etwas fremd. Während ihre Unmöglichkeit der Bewegung Raum zum Wachsen gab, ist der Gebrauch selbst unhaltbarer Forderungen in den USA aus der Mode gekommen. Nach dem Scheitern der ersten Antikriegsproteste Mitte der 2000er Jahre definierten Aufstieg und Fall von Occupy einige Jahre später das, was zur Norm werden sollte, wobei ein Übermaß an Forderungen zu der allgemeinen Unfähigkeit führte, sich auf überhaupt welche zu „einigen“. In der ersten Welle von „Black Lives Matter“ Protesten nach dem Aufstand in Ferguson 2014 trat ein ähnliches Phänomen auf: Die „offiziellen“ BLM-Nichtregierungsorganisationen stellten konkrete Forderungen nach Körperkameras für Polizist*innen und nach Geld aus den Budgets militärische Ausrüstung, das in Antirassismus- und Deeskalationstrainings überführt werden sollten, aber dies waren nie die populären Forderungen der Straßen. Stattdessen schloss sich die Bewegung nicht um eine Forderung, sondern um eine Behauptung zusammen: „Black Lives Matter“.
Es ist diese Behauptung, die als kohärente Kraft des heutigen Aufstands zurückgekehrt ist. Zugleich könnte sich dies etwas ändern. Aber es gibt noch immer kein kohärentes Bündel von Forderungen, das friedliche und militante Demonstrierenden, die sich nach der Ermordung von George Floyd erhoben haben, vereinen könnte. Sollten solche Forderungen aufkommen, so wären sie wahrscheinlich grundlegend und ohne „Abbau der großen Bühne“ des „business as usual in den USA“ wahrscheinlich nicht zu erreichen, ähnlich wie die fünf Forderungen aus Hongkong: Generalamnestie, Abschaffung der Polizei oder Wiedergutmachung für Jahrhunderte staatlich sanktionierten Mordes und Zwangsarbeit. Aufrufe zur „Entschärfung der Polizei“ scheinen jetzt an Bedeutung gewonnen zu haben, nachdem sie von Aktivistengruppen und lokalen progressiven Politiker*innen aufgegriffen wurden. Aber eine solche Forderung bleibt weit hinter der populäreren Forderung nach Abschaffung der Polizei zurück und erlaubt es den lokalen Regierenden zu behaupten, dass sie der Polizei „das Budget entziehen würden“ [defunding], während sie in Wirklichkeit nur geringfügige Haushaltskürzungen vornehmen. In diesem Sinne scheint „die Polizei zu definanzieren“ einen ähnlichen Charakter anzunehmen wie die Forderung nach Körperkameras im Jahr 2014.
Mit oder ohne solche Forderungen sehen wir die Kerninnovation der Rolle des Frontliners als eingebettet in die neuen Beziehungen, die möglich werden: zwischen der „Frontlinie“ und der zweiten Linie, der dritten und anderen unterstützenden Protestierenden. Eine Ähnlichkeit zwischen den Erfahrungen der Demonstrierenden in Hongkong und denen auf den Straßen der USA besteht darin, dass viele zwar seit langem erfahren haben, wie polizeiliche Repression funktioniert, dass dies aber für viele das erste Mal (oder zumindest einer der schwersten Momente) ist, dass die polizeiliche Unterdrückung friedlicher Proteste sichtbar wird. In gewisser Weise wurde die sich entwickelnde Rolle des Frontliners tatsächlich durch die Polizeiaktion erzwungen. Als die Unterdrückung der Bewegung in Hongkong einen bestimmten Punkt überschritten hatte, wurden zwei Tatsachen deutlich: Erstens, die Polizei ist grundsätzlich gewalttätig, und sie wird diese Gewalt ausüben, unabhängig davon, ob ihre Ziele friedlich protestieren oder nicht. Zweitens wurde deutlich, dass die Protestierenden in der Lage sein müssen, sich zu verteidigen, wenn die Bewegung weiter bestehen soll.
Da die Polizei und die Verstärkung der Nationalgarde versuchen, die Proteste auf unglaublich gewaltsame Weise auf den Straßen fast jeder größeren Stadt in den USA zu zerstreuen, scheint es möglich, dass das Land hinsichtlich des Ausmaßes und der Intensität der Unterdrückung einen ähnlichen Wendepunkt erleben könnte. Für diejenigen, die nach Wegen suchen, um unsere Freund*innen und Genoss*innen zu unterstützen, solidarisch zu arbeiten, um die von der Polizei Getöteten zu betrauern und sicherzustellen, dass solche systemische Gewalt eines Tages ein Ende findet – eine Methode, den Kampf fortzusetzen, könnte darin bestehen, dass man erkennt, dass die Rolle des Frontlinee darin besteht, alle anderen zu schützen. Deshalb sagen wir: Willkommen an der Frontlinie, aber auch an der zweiten und dritten Linie, bei den Sanitäter*innen und Versorgungslinien, bei allen, die Platz haben, bei den Illustratorinnen und Druckern, Verteiler*innen, bei den Live-Streamern und allen, die Informationen von den Polizei-Scannern twittern. Vielleicht können wir dieses Mal alle zusammen am Start sein.
Anmerkungen
- Diese Analyse ist das Ergebnis vieler Gespräche mit Freund*innen in Hongkong, Chile und den USA, unter denen wir Dashu und die KW für ihre geduldige Hilfe bei der Überprüfung von Fakten und klärenden Informationen für diesen Artikel hervorheben möchten. Sie hoffen, dass ihre Erfahrungen aus Hongkong und Chile dem Kampf gegen Polizeibrutalität und Rassisierung in den USA und darüber hinaus von Nutzen sein können.
- Während das pandemokratische Lager die Wahlreform in Hongkong unterstützt, unterstützt es weitgehend die bestehende Regierungspolitik – abgesehen von der Labour Party und der Liga der Sozialdemokraten, den beiden einzigen Mitgliedsparteien, die eine linke Agenda verfolgen.
- Während dieses Organisationsprinzip eine wichtige Rolle dabei spielte, der Bewegung zu helfen, militanter zu werden und sich selbst zu erhalten, scheint es nach Ansicht unserer Freund*innen vor Ort auch zu einem Hindernis für die Möglichkeit einer antikapitalistischen Politisierung geworden zu sein und sollte daher nicht romantisiert werden: „Auch wenn es sich horizontal oder anarchistisch anhört, ist es in der Praxis nicht mit so etwas wie demokratischen Diskussionen unter den Teilnehmenden verbunden, sondern eher ideologisch mit den Lokalisten, die gegen die pandemokratische Gruppe waren, die an der Macht war und die Bühne kontrollierte. Schließlich verbreitete sich der Begriff unter der breiteren Masse der Teilnehmenden, die befürchteten, dass Konflikte zwischen solchen politischen Fraktionen die Bewegung untergraben würden, und es bildete sich ein Konsens heraus, dass niemand die Macht übernehmen sollte. […] Aber er beinhaltet nicht die Art der Ausstrahlung unterschiedlicher Ansichten vor Ort, die normalerweise mit Begriffen wie „horizontale“ oder „führerlose Bewegung“ assoziiert wird, und verhindert sie sogar aktiv“. (Aus „Remolding Hong Kong“.)
- Diese Statistiken stammen alle aus dem Untersuchungsbericht „Anti-ELAB-Protest“ vor Ort („反逃犯条例修订示威 „现场调查报告).