Immunität für alle – Einladung zum Streik

Poster und Aufruf zur kollektiven Selbstverteidigung

Wieder einmal reposten wir einen Beitrag von crimethinc, einem mitlerweile sehr internationalen anarchistischen Projekt. Auf der crimethinc homepage könnt ihr die Poster und den Aufruf auch auf italienisch und brasilianischem portogisisch lesen. Sicherlich werden weitere Übersetzungen folgen. Bitte beachtet auch, dass der Beitrag „Das Virus überleben: Ein anarchistischer Leitfaden„, den wir vor einigen Tagen gepostet haben, mittlerweile nicht nur auf Deutsch, sonder auch auf Español, Suomen, Français, Ελληνικά, Bahasa Indonesia, Italiano, Polski, Português Brasileiro und Türkçe übersetzt wurde. Spread the word! Bleibt gesund – solidarisch – wütend!

Immunität für alle – Einladung zum Streik

Während sich die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bemerkbar machen, entsteht in den USA, Kanada, Deutschland und weltweit eine Dynamik für eine massenhafte Verweigerung von Miet-, Hypotheken- und Kreditzahlungen von unten. Im April dieses Jahres werden Millionen von Menschen ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können, unabhängig davon, ob sie bezahlen wollen oder nicht. Wie die Pandemie ist dies eine weitere unvermeidliche Folge eines Systems, das nie dafür konzipiert war uns Sicherheiten zu bieten. Das Virus bedroht unser Leben – aber es bedroht auch die Gesellschaftsordnung, die uns bereits das Leben unmöglich machte.

Aus unserer Sicht ist es am dringendsten, diejenigen, die nicht zahlen, gegen mögliche Räumung1 und andere negative Folgen zu verteidigen. Wenn wir nicht zusammenkommen, um uns gegenseitig zu verteidigen, werden diejenigen, die an der Macht sind, uns nacheinander isolieren, betrügen und zerstören. Wendet euch an eure Nachbar*innen. Baut Verteidigungsgruppen auf. Sucht lokale Druckpunkte. Sprecht über Taktiken. Seid kreativ. Bereitet euch darauf vor, Zwangsräumungen mit allen erforderlichen Mitteln zu stoppen. Je mehr Menschen sich beteiligen, desto sicherer werden wir alle sein. Gemeinsam können wir die Gerichte und Sheriffs, die die Privilegien der Reichen durchsetzen, besiegen.

Die Nutznießer*innen der herrschenden Ordnung machen sich bereit, um uns die Folgen dieser Krise aufzuerlegen – ein Gesetz für sie, ein anderes für uns. Unternehmen wie Subway, die Cheesecake Factory, Adidas und andere haben bereits erklärt, dass sie im April keine Miete zahlen werden. Es gibt Bestimmungen zum Schutz von Menschen aus der Mittelschicht, die sich ihre Hypotheken nicht leisten können, aber keine für die ärmsten Menschen, die Miete zahlen müssen.

Hier präsentieren wir ein Poster und zwei Texte über den Mietstreik: der erste ist von einer Gruppe, die eine landesweite Koordination für den Streik anbietet, der zweite von Anarchist*innen, die an der Organisation von Mietstreiks an der Westküste (USA) beteiligt sind. Um mehr über den Mietstreik zu erfahren, fangt hier an.


Immunität für alle: ein Plakat zur Unterstützung des Mietstreiks. Klick auf das Bild, um das Plakat herunterzuladen.


Immunität für alle: Das Zuhause verteidigen

Im 21. Jahrhundert ist das Gefühl zuhause zu sein zu einer immer prekäreren und vorübergehenden Erfahrung geworden.

Einige schlafen in Zügen oder auf der Straße; für diejenigen, die zwischen Pappwänden wohnen, kann selbst diese schmale Schicht von Komfort jederzeit von der Polizei weggerissen werden. Andere mieten Kisten aus Holz und Trockenbauwänden, in denen das Gefühl des Zuhauses durch monatliche Mahnungen unterbrochen wird, die uns daran erinnern dafür zu zahlen, dass wir auf dem Grundstück eines anderen verweilen. Die Miete für den nächsten Monat baut sich drohend vor einem auf, sobald die Wirkung der Zahlung dieses Monats nachlässt. In einem größeren Sinne teilen alle Lebewesen auf diesem Planeten das Gefühl, unser Zuhause zu verlieren, da der industrielle Kapitalismus es nach und nach unbewohnbar macht. Eine Milliarde toter Tiere, die über Australien verstreut sind, während der Himmel durch den Rauch nicht mehr sichtbar ist – schwarze Öltümpel, die auf Wasser schwimmen –, eine Insel aus Plastik im Ozean: Diese katastrophalen Szenen von zunehmender Häufigkeit und Größe implizieren, dass die Erde uns vielleicht bald nirgendwo mehr ein Zuhause bieten kann.

Die COVID-19-Pandemie ist eine dieser Katastrophen. Dennoch hat sie uns sehr direkt auf die Bedeutung eines Zuhause gestoßen. Das wiederholte Waschen unserer Hände und die ständige Unterdrückung des Impulses, unser Gesicht zu berühren, lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf unseren Körper. Das Abwischen von Oberflächen und Türklinken erinnert uns an all die Arten, wie sich unsere physische Präsenz unausweichlich mit der Anwesenheit anderer überschneidet. Dass wir es nicht geschafft haben, die Vermehrung einer winzigen Information – 30 Kilobasen RNA in einer Virushülle – einzudämmen, unterstreicht die Tatsache, dass genetische Materie schon immer eine Art Allmende war. Unsere Körper sind das Echo einer gemeinsamen Abstammung; sie verbinden uns mit der Erde.

Dies ist die Grundlage, auf der wir ein neues Gefühl dafür was Zuhause bedeutet aufbauen müssen. Das Zuhause ist eine Struktur, die das Leben unterstützt, ein Ort des Komforts und der Privatsphäre, ein Ort, an dem wir nicht lohnarbeiten müssen. Unser Zuhause bietet uns Immunität vor den unzähligen Kräften, die auf uns einwirken. Wenn wir im Falle einer Pandemie »Schutz zu Hause« suchen, um das Virus nicht zu verbreiten, sind die größten Bedrohungen unserer Immunität die Kräfte, die versuchen, uns unserer Häuser zu berauben. Da die Arbeitslosigkeit aufgrund der Pandemie voraussichtlich bei schwindelerregenden 20% liegen wird, müssen wir uns mit den Eigentumsverhältnissen auseinandersetzen, die unsere Zuhause dem Druck von Pachtverträgen und Hypotheken aussetzen.

Unsere erste Verteidigungslinie ist die Immunität vor den Vermieter*innen und Bauträgern, die selbst bei einem Zusammenbruch der Wirtschaft eine volle Rendite erwarten. Wir brauchen Immunität vor den Gerichtsvollzieher*innen, vor den Gerichten, die Räumungsbefehle ausstellen, und vor der Polizei, die sie ausführt. Wir brauchen Immunität für die Patienten, die 40.000 Dollar-Rechnungen für die medizinische Notfallversorgung zur Behandlung von COVID-19 ausgestellt bekommen haben. Wir brauchen Immunität für Gefangene, Einwanderer*innen und Asylsuchende auf der ganzen Welt, die zu Krankheit und wahrscheinlichem Tod verurteilt sind, während sie in Käfigen gefangen sind, die nie ein Zuhause sein werden. Wir brauchen Immunität für alle.

Im April dieses Jahres werden sich unzählige Menschen weigern, Miete zu zahlen, und mit dieser Geste »Herdenimmunität« eine neue Bedeutung verleihen. Viren haben schon immer eine evolutionäre Rolle als Vektoren der Informationsübertragung über Arten und Königreiche hinweg gespielt; sie sind Meister in der Synchronisierung von Ökologien. Was ist möglich, wenn wir unsere Aktionen in eine kollektive Verweigerung synchronisieren? Lasst uns gemeinsam diesen Ort, den wir Zuhause nennen, verteidigen.

Einladung zum Streik

»Meine Vorstellungskraft macht mich menschlich und macht mich zum Narren; sie gibt mir die ganze Welt und verbannt mich von ihr.«

-Ursula K. LeGuin

»Ich möchte lieber nicht«

-Bartleby

»Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustands in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.«

Walter Benjamin

Wir zahlen am 1. April keine Miete. Das können wir uns nicht leisten. Wir könnten es schon jetzt kaum noch. Miete: unser monatlicher Beitrag zu dem Trugschluss, dass die Häuser, die wir auf gestohlenem Land bewohnen, unseren Vermieter*innen gehören, denen wir allein schon dafür das wir leben zu Dank verpflichtet sind. Jetzt, wo unsere Existenz als Spezies in Frage gestellt wird, können wir den Alptraum dieser Beziehung nicht mehr ertragen.

In den letzten zehn Jahren wurden Aufstände, die Regime stürzten, durch die globale Gentrifizierung der Städte niedergeschlagen. Rebell*innen in Städten auf der ganzen Welt haben sich den steigenden Lebenshaltungskosten und der seelenzerstörenden Zermürbung der Arbeit gebeugt. Unser Leben ist zu einem endlosen Hustle geworden. Sie pumpen eine Billion Dollar pro Tag in die Banken, um sie über Wasser zu halten. Die täglichen Anträge auf Arbeitslosenunterstützung in den so genannten Vereinigten Staaten übertreffen bereits jetzt die Anträge zum Höhepunkt der Finanzkrise (die der Occupy-Bewegung vorausging). In Kalifornien hat der Verband der Wohnungseigentümer einen Brief an seine Mitglieder geschickt, in dem er den Vermieter*innen rät, die Mieten einzufrieren, mit den Mieter*innen zusammenzuarbeiten, um Zahlungspläne aufzustellen und die Räumungen auszusetzen. Doch die Stadtverwaltungen bieten nur einen dürftigen Schutz für die Mieter*innen an. Die Kapitalist*innen haben ihre Bereitschaft angekündigt, uns auf dem Altar der Wirtschaft massenhaft zu opfern. Sie wollen, dass wir wieder arbeiten.

Unsere Feinde sind verängstigt. Sie wissen, dass ein Sturm kommt. Einer muss nachgeben.

Am 1. April wird eine noch nie dagewesene Welle von uns unsere Miete einfach nicht bezahlen. Einige werden dies aus Solidarität tun. Einige werden dies tun, da sie keine andere Wahl haben. Einige werden dies als ganzes Gebäude oder als ganzer Block tun. Einige werden es im Alleingang tun. Dieser Streik gehört nicht den Aktivist*innen, Organisator*innen oder Militanten. Er gehört uns allen, allen, die die Last dieser Krise einfach nicht tragen können oder wollen. Er gehört allen, die nicht zahlen wollen, die keine weiteren Schulden auf sich nehmen, allen, die sich gegenseitig mit »Nein« bejahen werden. Allen, die sich gegenseitig lieben und schützen.

Wir haben bereits gestreikt.

Einige von uns haben in Gefängnissen, in Hörsälen, auf den Straßen und in den Häfen gestreikt. Jetzt streiken wir von zu Hause aus. So wie wir nach der Pandemie von 1918 gestreikt haben, so wie wir nach der Beulenpest gestreikt haben. Nach diesen Katastrophen konnten sie uns nicht zur Arbeit zwingen, sie konnten unsere Freizügigkeit nicht unterbinden, und wir entdeckten die Formeln, die es uns erlaubten, den Reichtum, den sie sogar im Tod – diese gleichmachende Gewalt – gehortet hatten, zu enteignen. Unendlich neue Lebensmöglichkeiten sind plötzlich für unzählige Menschen denkbar geworden, die gerade erst anfangen sich ein Leben außerhalb der Wirtschaft vorzustellen. Noch nie war unsere Vorstellungskraft, unsere energische Aufmerksamkeit so dringend erforderlich.

Dieselben fortschrittlichen Politiker*innen, die das Wort Abolition verteidigt haben, versuchen bereits, sich die Sprache der gegenseitigen Hilfe anzueignen. Sie wissen, dass der Staat uns nicht retten kann. Wenn die gegenseitige Hilfe tatsächlich ein Faktor der Evolution ist, dann verändert sie uns bereits jetzt, wo sie sich auf so vielfältige Weise ausgebreitet hat. Wenn dies vorbei ist, werden uns die Behörden sagen, dass wir nur wegen ihrer Kontrolle überlebt haben; die Liberalen applaudieren bereits dem neuen Autoritarismus im Namen des Gemeinwohls. Doch wir wissen, dass das, was uns wirklich am Leben hält, unsere Sorge um den anderen ist.

Der Virus bedroht unser Leben, aber es bedroht auch die soziale Ordnung, die unser Leben bislang unmöglich gemacht hat. Miete, Arbeit, Tickets, Schulden, Versicherungen – all die Betrügereien, in die wir hineingeboren wurden – werden vom Virus eingefroren. Wir werden die Feuer in uns schüren und unsere Ofen heizen um diese Kälte auszuhalten.

Und der Frühling steht uns bevor. Mit dem 1. April, dem Narrentag, kommt der Frühling im Ernst: eine Erneuerung, ein Jubiläum, eine Aussetzung, eine Umkehrung, ein kosmischer Witz – aber nicht über uns. Die Reise des Narren öffnet den Weg in die Welt. Die unausweichliche Nichtzahlung unzähliger Schulden wird unser erster Schlag gegen die Welt des Maßes und der Kontrolle sein. Das ist das Einfachste, was wir tun können. Im Angesicht der Krankheit lasst uns mit Leichtigkeit, Anmut und Ruhe beginnen.

Wenn die Arbeit selbst uns tötet, kann der Streik nicht mehr Arbeit bedeuten. Der 1. April ist kein Aktionstag. Schlaf an diesem Tag aus, ruf deine Freund*innen an, küsse deine Liebe, lies, meditiere, trink Wasser und mach dich bereit. Dieser Tag ist ein kleiner Schlüssel, der eine große Tür öffnet. Die Manager*innen der Küstenstädte testen bereits das neue Normal in der Betaversion, aber die Karten werden noch ausgeteilt. Die Krise ist erst dann vorbei, wenn wir uns dazu entschließen, sie zu überwinden. Jetzt, wo alles auf dem Spiel steht, ist unsere kollektive Weigerung, ihr Spiel zu spielen, unsere größte Waffe.

Die alte Welt wird uns nicht alles geben, was wir brauchen. Wie könnte sie auch? Gesundheit, Ruhe, eine Welt ohne Schulden oder Gefängnisse, ein Zuhause – wir, die wir durch diese Tür treten, müssen diese Dinge für uns selbst finden. Wir müssen den Streik so weit wie möglich ausbreiten.

Wir haben keine Angst vor Ruinen. Heute, wo unsere Zukunft abgesagt wurde, ist die gemeinsame Zeit vielleicht alles, was wir haben. Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren. Wir werden diejenigen sein, die das, was als nächstes kommt, gestalten. Legt eure Last ab. Du musst dich dem nicht allein stellen. Wir machen uns auf. Bei so viel Distanz zwischen uns ist es Zeit, alles zu aktivieren, was uns verbindet.

Inseln im Strom
Das ist es, was wir sind.
Niemand dazwischen
Wie können wir uns irren
Segel mit mir weg
In eine andere Welt
Und wir verlassen uns aufeinander,
ah ha

Zahl nicht. Wir werden auch nicht zahlen. Sie können uns nicht alle räumen. Wir machen ihnen die Hölle heiß, wenn sie es versuchen.

Wir wissen, wie man eine Seuche überlebt.

La salute è in voi! – Die Gesundheit ist in dir!


  1. Zwangsräumungen sind in Deutschland momentan offiziell ausgesetzt – aber das bedeutet vermutlich lediglich, dass sie verschoben sind. Auch einige weitere Punkte im Verlaufe des Textes sind nicht 1 zu 1 auf die Situation im deutschsprachigen Kontext zu übertragen. Wir haben dieses mal keine Anpassung vorgenommen und hoffen, dass der Text so solidarische Perspektiven zwischen Kämpfen hier und dort eröffnet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.